Vor Gebrauch schütteln!

Die Existenzgelddiskussion kommt auch ohne Gebrauchsanweisung aus

"Schluß mit dem Streß!" Mit dieser Parole mobilisieren die Berliner Gruppe F.e.l.S und andere zu einer "Arbeitskonferenz für Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung" vom 19.-21. März 1999 in Berlin. Zumindest mit der Existenzgeldforderung haben die InitiatorInnen dabei offensichtlich einen Nerv bei linken Gruppen getroffen, die auf der Suche nach neuen politischen Handlungsmöglichkeiten im Bereich der "sozialen Frage" sind. Doch die dominierende Frage, ob diese Forderung nun "revolutionär" oder "reformistisch" ist, wird dem schillernden und ambivalenten Charakter der Existenzgeldforderung nur sehr eingeschränkt gerecht.

Das neue Interesse an der Existenzgeldforderung ist erstaunlich, hat sie doch ihre besten Tage vor 10, 15 Jahren gehabt, als sie in der Bundesrepublik von einer tatsächlich relevanten Erwerbslosenbewegung getragen wurde. Immerhin sahen sich die Grünen damals gezwungen, den Gedanken eines existenzsichernden garantierten Einkommens unabhängig von der Verpflichtung zur Arbeit aufzugreifen. Daß dieses ursprüngliche Grünen-Modell mittlerweile zu einer wirtschaftsliberalen Modernisierung der Sozialhilfe mutiert ist, liegt auch am Niedergang jener Bewegung.

Die aktuellen Diskussionen um die Existenzgeldforderung sind daher auch nicht Ausdruck einer neuen Massenmobilisierung, sondern wohl in erster Linie Ausdruck eines Suchprozesses, in dem sich Teile der Linken, vor allem auch der (ex-)autonomen Linken befinden. Hinter der Existenzgelddiskussion steht bei vielen ein neues politisches Interesse an einer grundsätzlichen Kritik des Kapitalverhältnisses und der Lohnarbeit. Die Existenzgelddiskussion ist auch ein Vehikel für die Suche nach neuen Orientierungen in der eigenen politischen Praxis. Dies dürfte vor allem für viele, oft jüngere Leute und Gruppen aus dem eher autonomen Spektrum gelten, für die Klassenkonflikte, soziale Kämpfe, Arbeit und Erwerbslosigkeit etc. im Vergleich zu antifaschistischer und antirassistischer Arbeit eher eine untergeordnete Bedeutung hatten und haben.

Mit der Existenzgeldforderung und der Zuspitzung auf die Debatte um diese Forderung ist es F.e.l.S. gelungen, diesem Bedürfnis nach Annäherung an "die soziale Frage" oder nach neuen sozialrevolutionären Politikansätzen Ausdruck zu verleihen. Dies und der Versuch, diese durchaus widersprüchlichen und vorsichtigen Neuorientierungen gegen einen zunehmend etablierten antinationalen Politikverzicht offen zu artikulieren, ist bereits ein Verdienst der geplanten Arbeitskonferenz und der in ihrem Rahmen angestoßenen Existenzgelddiskussion.

F.e.l.S hat damit ein neues "diskursives Feld" in der Linken eröffnet und besetzt; ein Feld, in dem eine Vielzahl unterschiedlicher Debatten und Diskussionsstränge aufeinandertreffen können, in dem sich aber auch - zumindest der Möglichkeit nach - unterschiedliche politische Erfahrungen und Kulturen aneinander abarbeiten können. Diese offene Seite des Existenzgelddiskurses ist positiver Bestandteil des Laboratoriums, aus dem vielleicht einmal eine neuzusammengesetzte klassenorientierte Linke erwachsen kann. Immerhin ist die Existenzgeldforderung auch ein verbindendes Element zu den Erwerbslosen- und Sozialhilfegruppen und den Euromarsch-Initiativen.

Welche positive Dynamik in der Existenzgeldforderung angelegt ist, zeigt sich u.a. auch daran, daß diese Forderung - neben der nach radikaler Arbeitszeitverkürzung - in den kämpferischen sozialen Bewegungen zumindest in Europa immer wieder auftaucht. So wie viele Linke hier staunend auf die Aktionen von AC! und anderen französischen Erwerbslosenorganisationen geschaut haben, so sehr haben sich deren AktivistInnen von der Existenzgelddebatte der bundesdeutschen Erwerbslosenbewegung beeinflussen lassen. Auch wenn oder gerade weil der politische Hintergrund und die Art der Kämpfe unterschiedlich sind, wird die Existenzgeldforderung von daher jeweils unterschiedlich vorgetragen. Hier deutet sich ein Element für grenzüberschreitende Vernetzung sozialer Kämpfe an.

Reformismus, na und?

Jenseits dieser Ebene dreht sich die tatsächliche inhaltliche Diskussion in der Bundesrepublik vor allem um die Frage, ob die Existenzgeldforderung als Geldforderung an Staat "reformistisch oder revolutionär" ist. So hat z.B. Karl Heinz Roth die neue Existenzgelddiskussion in der Bundesrepublik mit dem Hinweis kritisiert, sie berge die Gefahr eines "Reformismus von unten" (jungle world, 30.9.1998). Es kann m.E. gar kein Zweifel daran bestehen, daß die Existenzgeldforderung (ähnlich wie die Forderung eines Bleiberechts für alle) eine reformistische Forderung ist. Das Problem z.Z. ist jedoch, daß sie in der BRD gerade kein Ausdruck eines "Reformismus von unten" ist.

In der Tat ist es richtig, daß die Forderung an sich offene Flanken gerade für das rot-grüne Projekt eines modernisierten Kapitalismus bietet. Und zweifellos besteht zwischen der negativen Einkommenssteuer und der Bürgergeld-Position des Marktliberalismus, zwischen den Grundsicherungsmodellen der Grünen und der PDS sowie der Existenzgeldforderung der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen einige mehr oder weniger deutliche Berührungs- und Anknüpfungspunkte. Nur ist das kein wirkliches Argument gegen die Existenzgeldforderungen. Denn welches Modell sich letztlich durchsetzt, ist keine Frage der klaren oder weniger klaren Abgrenzungen von kapitalistischen Modernisierungsstrategien, sondern eine Frage der tatsächlich stattfindenden Kämpfe und Kräfteverhältnisse. Hier hat Roth selbst den entscheidenden Unterschied zwischen der reformistischen Existenzgeldforderung anno 1982 und derjenigen anno 1999 richtig benannt: die radikale Aneignungsbewegung, die damals als Massenbewegung existiert hat und heute fehlt.

Ein Existenzgeld mit den Elementen eines existenzsichernden und würdigen Einkommens für alle sowie der konsequenten Ablehnung der Arbeitsverpflichtung wäre ein reformistisches Projekt im wirklichen Sinne des Wortes (und damit ganz im Gegenteil zu den Modernisierungsplänen von CDU/SPD/FDP/Grünen); es würde die Lebenssituation vieler Menschen in diesem Land drastisch verbessern. Doch es ist klar, daß ein solches Projekt ohne erhebliche soziale Kämpfe nicht durchsetzbar ist. Die dialektische List eines solchen "Reformismus von unten" besteht unter den momentanen gesellschaftlichen Verhältnissen gerade darin, daß er – um erfolgreich zu sein - eine Radikalität und Dynamik entwickeln müßte, die deutlich über die reformistische Sozialstaatsfixiertheit hinausweist. Welche Sprengkraft in dieser Konfrontation liegen kann, haben die Streikbewegungen und Erwerbslosenaktionen in Frankreich deutlich gemacht.

Akademische Fallstricke

Das eigentliche Problem der momentanen Existenzgelddebatte, wie sie sich um die Berliner Konferenz herum entwickelt hat, liegt darin, daß es die Tendenz gibt, diese Forderung als "Gebrauchsanweisung" und als deus ex machina für neue sozia- le Bewegungen aufzufassen. In der letzten ak haben js. und gw. kritisch auf diesen Punkt hingewiesen ("Verwirrende Gebrauchsanweisung", ak 423, 18.2.1999). Die unterschiedlichen Texte, die in diesem Zusammenhang geschrieben worden sind bzw. auf der Konferenz-Homepage präsentiert werden, blenden weitgehend das grundlegende strategische Problem aus, daß sich die Debatte z.Z. in einer Phase des Trockenschwimmens bewegt. Alle Diskussionen und strategischen Optionen in diesem Bereich sind Debatten über oder für Bewegungen, die so (noch) nicht existieren. Doch dieses Problem wird viel zu wenig reflektiert. Diskussionen und Texte, die die eigene soziale und politische Praxis darstellen, aufarbeiten und zur Diskussion stellen, fehlen im Vorfeld der Berliner Konferenz genauso wie politische Diskussionen über vorhandene oder nicht vorhandene Klassenbewegungen oder gar politisch-strategische Vorschläge für eine neue klassenorientierte Linke.

Es entsteht vielmehr der Eindruck, die InitiatorInnen der Existenzgeldkonferenz suchten in der Existenzgeldforderung nach dem einen Hebel, mit dem dann Bewegungen neu initiiert werden können. Doch eine Herangehensweise, die erst isoliert und relativ marginalisiert eine Forderung vordiskutiert und diese anschließend in die sozialen Prozesse hineintragen und dort umsetzen will, würde nicht nur an einen schlechten Avantgardismus anknüpfen, sie zäumte das Pferd auch von hinten auf. Wenn schon nicht vor, so doch zumindest gleichzeitig mit der Diskussion um die Sinnhaftigkeit der einen oder anderen Forderung muß daher über die real existierenden oder eben nicht existierenden Bewegungen gesprochen werden, über die Subjekte und TrägerInnen sozialer Kämpfe. Gerade bei Forderungen wie Existenzgeld und radikaler Arbeitszeitverkürzung muß die Tatsache kritisch reflektiert werden, daß beide Forderungen außer bei AktivistInnen nicht nur nicht verankert sondern - wie etwa die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung - auch richtiggehend unbeliebt sind.

In der Konsequenz sind viele der zirkulierenden Debattenbeiträge einerseits eigentümlich akademisch und andererseits gleichzeitig an manchen Punkten theorielos. Es werden Existenzgeldmodelle diskutiert und voneinander abgegrenzt oder es werden in z.T. abenteuerlichen Rundumschlägen "der Sozialstaat" und "Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung" erörtert. Dabei wird kaum klar, vor welchem politischen Hintergrund die jeweiligen Beiträge entstanden sind. Sind sie Ausdruck von Interventionsversuchen? Ausdruck einer kontroversen Diskussion innerhalb einer Bewegung/Szene? An wen waren oder sind sie gerichtet? Welchen politischen Zweck hatten die AutorInnen jeweils im Sinn? Solche zur politischen Einordnung und Bewertung durchaus wichtigen Fragen bleiben weitgehend unbeantwortet, und die Texte vermitteln eher ein "Forschungsinteresse" an der "sozialen Frage im Post-Fordismus" denn einen politisch-strategischen Ansatz.

Auf der anderen Seite wird die Diskussion um die "Krise der Arbeitsgesellschaft" tendentiell auf die Existenzgelddiskussion verkürzt und fällt dadurch auch theoretisch hinter die eigenen Ansprüche zurück (Die Berliner Konferenz will immerhin eine "Kritik der Lohnarbeitsgesellschaft" vorantreiben.). Erstes Indiz dafür ist, daß sowohl in den vorbereitenden Papieren als auch in den Arbeitsgruppen der "Konferenz für Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung" die Arbeitszeitverkürzung selbst überhaupt nicht diskutiert wird. Während die Fallstricke der Existenzgeldforderung ausführlich besprochen werden, wird die "radikale Arbeitszeitverkürzung" einfach unhinterfragt postuliert. Dies ist um so bitterer, da Arbeitszeitverkürzung zunehmend zu einem Kampfbegriff von Kapitalisten und modernistischen Politikstrategen geworden ist und in der Praxis regelmäßig zu Arbeitsverdichtung, Mehrarbeit und Lohnraub geführt hat.

Dahinter steht ein grundlegenderes theoretisches wie praktisches Problem. Im Gegensatz etwa zu Frankreich macht die momentane Existenzgelddiskussion einen weiten Bogen um das Thema "Arbeit". In der Regel gibt es kursorische Hinweise auf veränderte Produktionsstrukturen, einen kurzen Schlenker zur Prekarisierung und die Betonung, daß das Existenzgeld frei von jeder Arbeitsverpflichtung sein müsse. Damit ist das Thema meist erledigt. Die theoretische Kritik an der Arbeit wird einfach nicht geführt, so daß viele Fragen, die dringend in diesem Zusammenhang diskutiert werden müßten, offenbleiben oder hinter Floskeln verschwinden. Gibt es nun einen emanzipatorischen Arbeitsbegriff, oder sollten wir die Arbeit als Bezugspunkt von Befreiung fallen lassen? Ist "die Arbeit" nun scheiße oder nicht? Was ist eigentlich mit "Arbeit gemeint"? Die Lohnarbeit oder menschliche Tätigkeiten allgemein? Was ist mit der "notwendigen gesellschaftlichen Arbeit", und wer soll sie leisten?

Die Kritik von Gruppen wie der Wildcat, die der Existenzgelddiskussion u.a. die Verkürzung auf die Reproduktion unter kapitalistischen Bedingungen und die Vernachlässigung des Produktionsprozesses vorwerfen, ist in diesem Zusammenhang durchaus berechtigt. Ist die Debatte um das Existenzgeld im akademischen Sinne theoretisch, so ist sie in Bezug auf die Arbeit tendenziell theorielos.

Kein Stein der Weisen in Sicht

Die Existenzgeldforderung ist nicht nur "ambivalent", sie ist auch bei weitem kein Stein der Weisen für eine neue linke Klassenpolitik. Es spricht sogar einiges dafür, daß die Existenzgeldforderung in der praktischen Politik von Initiativen und Basisgruppen ähnlich wenig Relevanz bekommt wie die Arbeitszeitverkürzung in den Betrieben. Widerstand und Aktionen werden sich gegen die verschärfte Bedürftigkeitsprüfung bei Sozial- und Arbeitsämtern, gegen Leistungskürzungen und vor allem gegen die immer drakonischer durchgesetzte Arbeitsverpflichtung richten. Die Rolle der Existenzgeldforderung dürfte sich auf eine Parole auf – hoffentlich wieder größeren - Demos und auf die allgemeine Programmatik einer Bewegung beschränken. Auch unter diesem Aspekt sollte die Existenzgelddebatte - erst recht wenn sie als "Gebrauchsanweisung" verstanden wird - nicht überbewertet werden.

Der eigentliche Nutzen dieser Diskussion liegt nicht in der inhaltlichen Herausarbeitung einer konsistenten Forderung, sondern hauptsächlich auf einer Meta-Ebene. Unter dem Label der Existenzgelddiskussion werden mit neuem Elan überhaupt wieder Diskussionen um eine klassenorientierte linke Politik geführt, und zwar offensichtlich in Bereichen und Szenen, bei denen diese Thema bisher keine Rolle gespielt hat. Wenn es unter dem Dach dieser Diskussion gelingt, die unterschiedlichen politischen Herangehensweisen, Kulturen und Erfahrungen von linker Politik zur "sozialen Frage" so zusammenzubringen, daß die Fremdheiten, Widersprüche und unterschiedlichen Positionen tatsächlich zunächst einmal ausgehalten werden, dann kann die Existenzgelddiskussion ein "dynamisches Zentrum" für einen Vernetzungsschub bilden.

Ob dies gelingt, wird sehr stark davon abhängen, wie sehr in Berlin eine vereinheitlichte Forderung "durchgesetzt" werden soll und welches Maß an Konzentration, Toleranz und Moderation dort und in Zukunft hergestellt werden kann. Statt eine neue "Linie" zu entwickeln und vorzugeben, kommt es in erster Linie darauf an, daß Basisinitiativen, Betriebs- und GewerkschaftsaktivistInnen, linksradikale Intellektuelle und (Ex-)Autonome überhaupt in die gemeinsame Diskussion kommen. Dies ist eine durchaus schwierige Aufgabe, die sich angesichts der immens unterschiedlichen Hintergründe keineswegs nebenbei und von alleine erledigt. Doch letztlich ist das der Maßstab, an dem sich zeigen wird, ob die Existenzgelddiskussion und die Konferenz in Berlin mehr werden als ein zukünftiger Sammelband in einem linken Verlag oder ein einmaliges Medienereignis.

dk.

aus: ak 424 vom 18.3.1999