Sozialrevolutionär ins 21. Jahrhundert

Teil 1: Globalisierung - Realität oder Mythos?

Für eine linksradikale Politik mit sozialrevolutionärer Perspektive ist es erforderlich, sich auf gesellschaftliche Entwicklungen, Widersprüche und Kämpfe - kurz: auf das vielschichtige Terrain der sozialen Frage(n) – zu beziehen. Die derzeitige gesellschaftliche Marginalisierung und politische Bedeutungslosigkeit der Linken ist unserer Einschätzung nach auch Folge einer fehlenden Einschätzung sozialer und ökonomischer Umbrüche der letzten Jahre. Der Sozialstaat der siebziger und achtziger Jahre, dessen Nischen nicht zuletzt materielle Grundlage linksradikaler Lebens- und Politikformen in dieser Zeit waren, existiert so nicht mehr. Umgekehrt gibt es kaum noch politische und soziale Bewegungen, die mittels solcher Nischen und Zugeständnisse befriedet werden müßten. Das gesamte gesellschaftliche Kräfteverhältnis, dessen Einschätzung auch das Koordinatensystem radikaler politischer Praxis darstellte, hat sich offensichtlich grundlegend verändert. Es gibt von linksradikaler Seite kaum Versuche, diese Veränderungen zu begreifen und zur Grundlage einer dementsprechend erneuerten politischen Praxis zu machen. Bestenfalls werden unkritisch Analysen vom "Postfordimus" übernommen, die in der Regel im universitären Rahmen und nicht mit dem Ziel radikaler Gesellschaftskritik entstanden sind. Meistens werden die gesellschaftlichen Entwicklungen jedoch einfach ignoriert: Mensch kümmert sich fast nur noch um die Binnenstrukturen einer immer kleiner werdenden Szene. In maßgeblichen Auseinandersetzungen mit gesamtgesellschaftlicher Reichweite ist die radikale Linke nicht (mehr) präsent. Mit einem fundierten Verständnis der Gesellschaft, wie sie zur Zeit ist und wohin sie sich entwickelt, sind auch Vorstellungen und Ansprüche verlorengegangen, wie diese Gesellschaft einmal sein soll (falls beides je existierte). Die meisten interessiert eben nur noch das Stück Kuchen, nicht mehr die ganze Bäckerei. Wir möchten diesen Zustand gemeinsam mit möglichst vielen anderen verändern. Wir denken, daß dies zur Zeit nicht mittels eines überstürzten Aktionismus zu machen ist. Die 37. Gründung einer Jobberlnnen- oder Erwerbslosengruppe oder die Ausrufung einer neuen autonomen Kampagne würde im günstigsten Fall das mehr oder weniger erfolglose Schicksal ihrer Vorgängerinnen teilen, wenn wir uns zuvor nicht einige grundlegende Gedanken machen. Zu diesem Zweck haben wir uns eine Reihe von Themen vorgenommen, die wir diskutieren wollen. Die Ergebnisse dieser Diskussionen werden wir jeweils veröffentlichen. Das ganze soll nicht lediglich der geistigen Erbauung und Wissensvermehrung dienen, sondern auf eineD fundierte und möglichst breit getragene politische Praxis hinauslaufen. In diesem ersten Papier haben wir zunächst einige Versuche von Linken, die sozioökonomischen Umbrüche als Folge von Globalisierung zu erklären, kritisch betrachtet und auf ihre Relevanz für eine revolutionäre Theorie und Praxis überprüft. Dabei stellen wir einen vorläufigen Diskussionsstand dar: Viele Sachverhalte sind uns auch nicht hundertprozentig klar, die meisten Thesen sind auch als Fragen zu lesen. Als weitere Themen haben wir uns vorgenommen: Die Veränderungen von Arbeitsmärkten und Sozialstaat in der BRD, Möglichkeiten und Grenzen aktueller sozialer Kämpfe, Geschichte linksradikaler Politik an "sozialen Fragen" seit 1968 in der BRD.

Das vermeintliche Zauberwort für die Beschreibung weltweiter sozialer und ökonomischer Umbrüche ist "Globalisierung", seltsamerweise gleichermaßen für Politikerlnnen aller Parteien, Unternehmer- und Gewerkschaftsfunktionäre, Feuilltonistlnnen in Zeitungen von FAZ bis taz, konservative Wirtschaftswissenschaftlerinnen und linksliberale Politologen. Auch bei linken AnalytikerInnen dreht sich alles um die "Globalisierung", die als Phänomen vorausgesetzt und nicht weiter hinterfragt wird. Für die Theoriebildung in der radikalen Linken gegenwärtig mit am einflußreichsten ist sicher das Buch des Frankfurter Politologen Joachim Hirsch, "Der nationale Wettbewerbsstaat" (erschienen 1995 im ID-Archiv). Hirsch, der sich in die Tradition der französischen Regulationsschule stellt, bemüht sich in seinem Buch um die Analyse einer "postfordistischen Akkumulationsstrategie". Diese besteht für ihn im Kern in einer "Rationalisierung und Flexibilisierung durch Globalisierung". Technologische Innovationen (v.a. der Informations- und Kommunikationstechnologien) und politische Entscheidungen(v.a. Liberalisierung und Deregulierung von Finanzmärkten) seit Mitte der siebziger Jahre hätten die Mobilität des Kapitals so umfassend erhöht, daß es Hirsch angemessen erscheint, von einer neuen Qualität der Internationalisierung zu

sprechen. So könnten multinationale Unternehmen heute "flexibel und schnell Teile ihrer Unternehmen an die Orte der Welt verlagern, die sich von den Lohnkosten, den Arbeitskraftqualifikationen, den Umweltbedingungen, der staatlichen Gesetzgebung oder von den Marktverhältnissen her am jeweils günstigsten erweisen." Die im Fordismus über relativ hohe Löhne und Sozialleistungen gewährleistete Massenkaufkraft habe im Zuge der Internationalisierung und Exportorientierung ihre Funktion fürs Kapital als "Konjunkturpeitsche" zunehmend verloren, um statt dessen als "Kostenfaktor" zur Belastung im "internationalen Wettbewerb" zu werden.

Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf, die einen gut 600 Seiten schweren Wälzer zu den "Grenzen der Globalisierung" vorgelegt haben, argumentieren ähnlich wie Hirsch. Sie betonen jedoch besonders die Bedeutung entfesselter Finanzmärkte. Das Geld als global beweglichste Form des Kapitals fungiert als "harte Budgetrestriktion der wirklichen Ökonomie, d.h. es zwingt zur Akkumulation, zur Produktion von Profit, zum Wettbewerb und daher zur Produktivitätssteigerung

Die verbleibende Funktion des Nationalstaates im Postfordismus sieht Hirsch "in der alle soziale Sphären umgreifenden Ausrichtung der Gesellschaft auf das Ziel globaler Wettbewerbsfahigkeit, deren Ziel die Profitabilität von 'Standorten' für ein international immer flexibler werdendes Kapital ist." Darin sieht er nicht - wie ihm oft vorgeworfen wurde - das "Ende des Nationalstaates". Im Gegenteil: Er konstatiert die zunehmende Bedeutung staatlicher Intervention, die jedoch in der Fixierung auf die "Standortfrage" starke soziale und regionale Polarisierungen zur Folge haben.

Als politische Konsequenz plädiert er für einen "radikalen Reformismus", der von einem Netzwerk außerhalb staatlicher Strukturen aktiver Bewegungen, Initiativen und Organisationen getragen werden soll. Hoffnungen setzt er hierbei auf international tätige "Nichtregierungsorganisationen" und Netzwerke von z.B. Menschenrechts-, Ökologie- oder Flüchtlingsgruppen, in denen politische' Formen jenseits der nationalstaatlichen Beschränkungen angelegt seien. Auch Altvater/Mdudcopf sehen Netzwerke internationaler Nichtregierungsorganisationen oder gar die UNO als potentielle Bändigerinnen des global entfesselten Kapitals. Vorschläge wie Energie-, Transport- und Topinsteuern zur Entschleunigung der globalen Kapitalströme, Senkung der Lohnnebenkosten, Einführung einer steuerfinanzierten Grundsicherung u.ä. können bestenfalls als das laue Lüftchen eines rot-grünen Reformmodells betrachtet werden, taugen aber nichts für eine umwälzende, sprich: revolutionäre, Perspektive.

Ein zentrales Dilemma der Ansätze aus der Regulationstheorie, für die Hirsch hier exemplarisch genannt wird, ist eben ihr

"Regulationsfetischismus". Da der analytische und theoriegemäße "Idealfall" für sie eine halbwegs funktionierende historische Form des gesellschaftlich regulierten Kapitalismus ist, geraten soziale Subjekte, die nicht in die "Regulationsweise" passen oder sie sogar zerstören, tendenziell aus dem Blick. So wird zum einen die Stabilität und innere Koheränz der jeweiligen "Regulationsweise" in der Regel überschätzt, innere Widersprüche, Grenzen und Brüche kaum zur Kenntnis genommen. Zum anderen werden meist nur (potentiell) regulierende Institutionen als emanzipatorische Subjekte begriffen, wie eben die UNO, der IWF oder etwa Greenpeace. Da solche Aussichten natürlich frustrieren müssen, kommt der "radikale Reformismus" (Hirsch) heraus, der zwar in einem regulierten Kapitalimus das kleinere Übel gegenüber seiner deregulierten Variante sieht, sich aber darüber hinaus nichts mehr vorstellen kann. Kurz: Die Regulationstheoretiker wollen den Kapitalismus bändigen - und ihn auch vor den "selbstzerstörerischen Folgen der Globalisierung" schützen. Für die Überwindung des Kapitalismus gibt ihr theoretisches Repertoire leider wenig her.

Mit einem anderen Ziel gehen Karl-Heinz Roth und John Holloway an die Sache. Sie wollen erklärtermaßen nicht den Kapitalismus regulieren, sondern versuchen, eine "Vorstellung vom Sozialismus zu entwickeln" (Holloway) bzw. "Möglichkeiten und Grenzen sozialistischer Politik im Übergang zum 21. Jahrhundert" auszuloten (Roth). K.-H. Roth hat in seinem 1993 verfaßten Referat/Thesenpapier "Die Wiederkehr der Proletarität und die Angst der Linken" versucht, den Toyotismus als globales Verwertungs- und VergesellschaAungsmodell des Postfordismus zu beschreiben. Da sich Investitionen seit Mitte der siebziger Jahre immer weniger rentiert hätten, versuche das globale Kapital seit Anfang der neunziger Jahre mittels einer Reorganisation der Produktion nach japanischem Vorbild die Verwertungsbedingungen zu verbessern: An der Spitze der Ausbeutungshierarchie stehen die Entwicklungs- und Fertigungszentren der Multis, die "höchstens 15-20%" der Lohnabhängigen "terroristisch-sozialpolitisch" in "Betriebsgemeinschaften" integieren. Der Großteil der Wertschöpfung wird in hierarchisch gegliederte Zulieferer-Ketten

ausgelagert, in denen zunehmend schlechte und ungesicherte Arbeitsverhältnisse herrschen. Ganz unten verortet Roth die oft hochqualifizierten, aber völlig ungesichert arbeitenden "selbständigen Arbeiter", welche er quasi als neues zentrales Subjekt in der postfordistischen Klassenstruktur ansieht. Insgesamt führt diese Entwicklung - so Roth - zu einer massenhaften Wiederkehr proletarischer Lebenslagen auf sich global nivellierendem Niveau, von der auch die (metropolitane) Linke in großem Umfang betroffen sei. Sowohl Roth als auch Holloway (hier in seinem Aufsatz "Globales Kapital und Nationalstaat") sehen diese Entwicklung wie auch Hirsch oder Altvater/Mahnkopf irgendwie als Folge von "Globalisierung", die die Rolle und Bedeutung des Nationalstaates drastisch verändert. Roth billigt ihm gerade noch zu, "territorial fixierte Teilfunktion des Weltkapitals" zu sein. Angesicht der "Mobilität der globalisierten Finanz-, Kredit- und Devisenmärkte" bleibe den räumlich immobilen Staaten nur die erbitterte gegenseitige Konkurrenz um die besten "komparativen Standortvorteile". Holloway beschreibt in ähnlicher Weise den Kampf zwischen Nationalstaaten als Kampf "um die Anziehung und/oder den Erhalt eines Teils des Weltkapitals (und somit eines Teils des globalen Mehrwerts) Um dieses Ziel zu erreichen, muß der Nationalstaat versuchen, günstige Bedingungen für die Reproduktion des Kapitals innerhalb seiner Grenzen zu sichern (durch die Bereitstellung von Infrastruktur, die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, die Erziehung und Regulierung von Arbeitskräften) sowie dem innerhalb seiner Grenzen agierenden Kapital internationale Unterstützung zu gewährleisten [...]." Trotzdem behauptet Holloway, es gebe keine "Globalisierung" oder "Internationalisierung" sondern nur "eine Veränderung in der Form der [immer schon] globalen Existenz des Kapitals. Der vordem relativ stabile Kapitalfluß wird zu einem schnellen Strom und dieser Strom schwemmt die Institutionen und Annahmen der Nachkriegswelt hinweg." Ausdruck dieser Veränderung ist bei Holloway die "Flucht" des räumlich fixierten ("produktiven") Kapitals vor den seit den siebziger Jahren renitent gewordenen ArbeiterInnen in die beweglichere Geldform - "auf der Suche nach neuen Menschen, die es ausbeuten [kann]." Im Gegensatz zur verbreiteten Sichtweise von Globalisierung als strategisches Projekt eines übermächtigen Kapitals sieht der alte Operaist Holloway "in der rastlosen Bewegung des Kapitals den deutlichsten Hinweis auf die Macht der Aufsässigkeit der Arbeiter."

Entscheidender Unterschied in den Analysen von Roth/Holloway zu denen von Hirsch, Altvater/Mahnkopf u.a. scheint die Einschätzung des (Klassen-)Subjekts in der gegenwärtigen Entwicklung zu sein. So setzt Roth in dem politischen Vorschlag, den er unterbreitet, auch nicht auf NGO's, sondern aufs Proletariat. Angesichts der von ihm konstatierten "weltweiten Nivellierung der

Klassenlagen" und der "globalen Zirkulation von Klassenkampferfahrungen" schlägt er den Aufbau eines weltweiten Informationsnetzes vor, um die "Erfahrungen des Widerstandes gegen Proletarisierung und Pauperisierung" zu verallgemeinern. Mit Hilfe lokaler und regionaler "Proletarischer Zirkel" sollen "Kerne einer erneuerten proletarischen Gegenkultur geschaffen werden", welche die gesellschaßliche Hegemonie des Standortdiskurses und der postfordistischen Ellenbogenmentalität durchbrechen können. Leider bleibt die "Klasse" sowohl bei Roth als auch bei Holloway gemessen an der ihr zugewiesenen Bedeutung doch sehr blass und unscharf. Holloway leitet ihre Aufsässigkeit nur indirekt aus der Verwertungskrise des Kapitals ab. Beispiele für diese Aufsässigkeit, Beschreibungen konkreter Kämpfe, ihrer Ziele und Auswirkungen gibt er nicht.

Ebenso Roth: Sein Vorschlag, "proletarische Zirkel" ins Leben zu rufen, bleibt völlig abstrakt. Mit den offenkundigen Problemen, die einer praktischen Umsetzung dieses Vorschlags entgegenstehen, setzt er sich nicht auseinander (unseres Wissens nach ist es seit Veröffentlichung des Papiers auch noch nicht zur Gründung eines "Proletarischen Zirkels" gekommen.) So stehen der - von ihm behaupteten - Angleichung materieller proletarischer Lebenslagen nach unten vielfältig zersplitterte Lebensweisen und politisch-kulturelle Deutungsmuster entgegen, die einer übergreifende Kommunikation oder gar Organisierung im Wege stehen. Realexistierende rassistische und sexistische Widersprüche werden von ihm fast gar nicht berücksichtigt.

Trotz dieser offenkundigen Mängel unterscheiden sich diese Theorien v.a. in ihren politischen Schlußfolgerungen wohltuend von den rot-grünen Reformszenarien a la Hirsch und Altvater/Mahnkopf. Jedoch ist bei allen die "Globalisierung" bzw. die fast uneingeschränkte Beweglichkeit des Kapitals eine nicht hinterfragte oder empirisch zu beweisende Tatsache. An diesem Punkt setzt die zentrale Kritik von Thomas Ebermann und Rainer Trampert ("Die Offenbarung der Propheten", Konkret-Verlag 1996) an, die die "Globalisierung" als reinen Propagandatrick der Kapitalverbände betrachten, mit denen lediglich niedrigere soziale Standards durchgesetzt werden sollen. So könnten "selbst nach Aussagen des ehemaligen Industriechefs Tyll Necker ... etwa 90-95 Prozent des in Deutschland angesiedelten Kapitals nicht auswandern."

Zudem betonen sie die Bindung des transnational operierenden Kapitals an einen Nationalstaat: "Ein wesentlicher Faktor für den globalen Erfolg ist die enge Verknüpfung der Wirtschaft mit der militärpolitischen und diplomatischen Potenz des Heimatstaates." Gegen die - von Hirsch, Roth oder Holloway nie so vertretene - These von der "Auflösung des Nationalstaates" stellen sie fest, daß überall auf der Welt "Ethnien, Sippen, Volkstänze" einen Aufschwung erleben. So wichtig die polemische Infragestellung neulinker Mythen durch Trampert/Ebermann auch ist, schießen sie teilweise weit übers Ziel hinaus. So unterstellen sie den von ihnen Verissenen oft Behauptungen, welche diese nicht vertreten haben oder mißverstehen ihre Theorien schlichtweg. Glaubt man ihren

Analysen, hat sich in den letzten zwanzig Jahren im Verhältnis von Kapital und Nationalstaat überhaupt nichts verändert.

Thesen und Fragen:

1.Ohne Zweifel ist "Globalisierung" als gesellschaftlicher Diskurs, als Medienereignis real und uneingeschränkt hegemonial. Sie dient zur Begründung und Legitimierung von allerhand "Sachzwängen", von denen es angeblich abhängt, ob der vermeintlich schwer angeschlagene "Standort Deutschland" wieder fitgemacht werden und damit "unser aller Wohlstand gesichert" werden kann. Beinahe alle wichtigen sozialpolitischen Debatten werden von dieser Argumentation bestimmt: Lohnfortzahlung, Steuerreform, Gesundheitsreform, Ladenöffnungszeiten, Mindestlohngesetz Air den Bau. Wenn "der Weltmarkt" oder "die Globalisierung" Air Zumutungen verantwortlich gemacht werden können, rücken deren Ursachen damit in den Bereich von Naturgewalten, gegen die sich auch nicht kämpfen läßt.

Kann mensch folglich an den Rahmenbedingungen nichts ändern, sollen wenigstens die persönlichen Nachteile in Grenzen gehalten werden. Das geht angeblich nur, wenn sich die "Deutschland GmbH" ihres "überflüssigen Ballasts" entledigt und gegen den Rest der Welt zusammenhält, um im "globalen Wettbewerb" zu bestehen. So blockiert die Wirkung des Globalisierungsdiskurses nicht nur soziale Kämpfe, sondern leistet nationalistischen und sozialdarwinistischen Tendenzen in der Gesellschaft Vorschub.

2.Es läßt sich - hat mensch keine millionenschweren Forschungsinstitute im Rücken - nicht exakt einschätzen, welche reale ökonomische Grundlage die Standorthysterie hat. Allerdings spricht viel für die Thesen von Trampert/Ebermann, daß das Kapital wesentlich ortsgebundener ist, als es selber erscheinen möchte. Hans-Jürgen Burchardt (Die Globalisierungsthese - von der kritischen Analyse zum politischen Opportunismus, in: Das Argument 5/6, 1996) stützt deren Ansicht mit einigen Zahlen. Er bestreitet, daß Globalisierung eine qualitativ neue Dimension besitze, da die weltwirtschaftliche Integration bereits 1913 viel größer war als heute. In den OECD-Staaten würden gegenwärtig fünf Sechstel der Produktion für die einheimischen Märkte hergestellt. Die behauptete "Globalisisierung" der Standorte - die sich quantitativ in ansteigenden ausländischen Direktinvestitionen ausdrücken müßte - beschränke sich bestenfalls auf die OECD-Länder, und auch dort mache sie in der Regel lediglich einen Anteil von 5-15% an den jeweiligen Gesamtinvestitionen aus. Er räumt lediglich so etwas wie Globalisierung der Finanz- und Devisenmärkte ein. In der Tat gibt es in diesem quantitativ enorm gewachsenen Sektor praktisch keine zeit-räumlichen Beschränkungen mehr. Jedoch bleibt das "Dilemma", daß sich Kapital letztlich - abgesehen von spekulativen "Blasen", die jederzeit platzen können - nur in der Produktion, durch die Ausbeutung von lebendiger Arbeit vermehren kann und sich zu diesem Zweck immer wieder territorial binden muß. Ein Auseinanderhalten von (globalem) Finanzkapital und (national fixiertem) "produktivem" Kapital ist in der Realität nicht möglich und leistet nur latent antisemitischen Verschwörungstheorien Vorschub: Im Wirklichkeit sind beide Bereiche in unlöslicher Weise miteinander verschmolzen und aufeinander angewiesen.

3.Für eine linksradikale Politik ist die Frage nach der empirischen Grundlage von Globalisierung aber nicht so entscheidend. Selbst wenn reale Globalisierung "uns" massive Kapitalflucht bescheren würde, wäre das eigentlich kein Grund zur Panik, da dies, optimistisch mit Holloway gedacht, ja auch Folge erfolgreicher sozialer Kämpfe sein könnte. Sollten wir etwa einer Automobilfabrik oder einer Textilklitsche, die ausgelagert oder dichtgemacht wird, hinterhertrauern? Würde der erfolgreiche Kampf gegen das Kapital nicht zwangsläufig in seiner Vertreibung, global: seiner Abschaffung, bestehen? Wir wollen auch keinen neuen Keynesianismus, der ein gezähmtes, nationalstaatlich orientiertes, "verantwortungsbewußtes" Kapital als Sozialpartner benötigen würde. Die Zwänge und Zumutungen des Keynesianismus in seiner korporatistisch-sozialstaatlichen Variante als "Modell Deutschland" haben wir in den 70er und 80er Jahren gehaßt und bekämpft. Letztlich dienten die ,Errungenschaften" dieses Sozialstaates doch vor allem dazu, den "sozialen Frieden" zu sichern, wo er gefährdet schien, und den gesellschaftlichen Arbeitszwang gemäß den Erfordernissen der fordistischen Industrien aufrechtzuerhalten. Ein existenzsicherndes Niveau haben Rente oder Arbeitslosengeld lediglich für TrägerInnen der "Normalerwerbsbiographie" besessen, sprich: den in der Regel männlichen, verheirateten und mindestens 40 Jahre lang malochenden Facharbeiter bzw. seine Angehörigen. Wer diesem Muster nicht entsprach und sich auch nicht mittels kollektiver Strukturen gewisse Freiräume schaffen konnte, fiel den bekannten Formen der Ausgrenzung zum Opfer, die heute sehr viel größere Bevölkerungskreise betreffen.

4.Ein reales Problem für die radikale Linke (und nicht nur für diese) ist allerdings, das vor dem ideologischen Hintergrund der Globalisierungsdebatte weitreichende gesellschaftliche Umstrukturierungen durchgesetzt werden, die eine massive Umverteilung von unten nach oben, eine Verschärfung des allgemeinen Arbeitszwangs und eine drastische Verschlechterung der ' Lebensbedingungen von Arbeiterinnen und BezieherInnen von Sozialgeldern zur Folge haben. Ausgangspunkt dieser Restrukturierung war die weltweite Krise der Kapitalverwertung Mitte der siebziger Jahre, als das fordistische Entwicklungsmodells überall mit massiven Einkommensforderungen und Arbeitsverweigerungen konfrontiert wurde und sich seine immanenten Produktivitätsreserven zunehmend erschöpften. Das - meist toyotistisch oder postfordistisch genannte - Verwertungsmodell, dessen Konturen sich in den letzten zwanzig Jahren in unterschiedlicher Ausprägung und Geschwindigkeit in den meisten Ländern zeigten, stellt ganz andere Anforderungen an Arbeitskräfte und (Sozial-)Staat. Der ehemals vorherrschende Typus des relativ gut zahlten und sozial abgesicherten "Massenarbeiters" in den Groß an den hat seine gesellschaftliche Bedeutung fast verloren. An die Stelle dieser relativ homogenen Figur tritt die von K.-H.. Roth beschriebene "Ausbeutungspyramide" mit ihren hierarchisch gestaffelten und vielfältig zersplitterten Arbeits- und Lebensbedingungen, die auf den Bedarf einer flexibilisierten, hochmechanisierten und räumlich zerlegten Produktionsorganisation zugeschnitten sind. Dementsprechend hat der Staat heute auch nicht mehr die sozialpolitische Funktion, eine relativ homogene, sozial abgesicherte und integrierte Arbeitskraft zu reproduzieren, sondern muß dem Bedarf des Kapitals an hochflexiblen, ungesicherten und auch schlechtbezahlten Arbeitskräften entsprechen. In der Regel zielen die ständigen Leistungskürzungen und die Verschärfungen der Kontrollen von LeistungsbezieherInnen neben dem vordergründigen Ziel der Einsparungen darauf ab, den Druck zur Arbeitsaufnahme ohne Bedingungen zu erhöhen. Die größer werdenden Teile der Bevölkerung, die auch auf diese Weise keiner "produktiven Verwendung" zugeführt werden können, sind bereits mit Formen der Ausgrenzung konfrontiert, die ihnen die physischen Existenzgrundlagen entziehen (z.B. Obdachlose, Flüchtlinge, Pflege"fälle"). Angesichts dieser Perspektiven für "durchs Raster Gefallene" und der Tatsache von real sechs Millionen Arbeitslosen kann der Globalisierungsdiskurs auch seine volle Wirkung entfalten. So reicht z.B. die Androhung einer Betriebsverlagerung oder -schließung in der Regel, um Belegschaften bzw. deren Betriebsräte zu weitreichendem Lohnverzicht, Flexibilisierung und freiwilliger Mehrarbeit zu bringen.

5.Angesichts dieser Entwicklungen - von denen "wir" als Linke ja auch betroffen sind - halten wir es für notwendig, auch unsere materiellen Lebensumstände zum Inhalt politischer Praxis zu machen. Eine Chance, damit gesamtgesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, besteht jedoch nicht, wenn wir unsere materiellen Probleme im Binnenrahmen der Szene zu lösen versuchen und uns damit bestenfalls neue Nischen schaffen. Im Gegenteil müssen wir (wieder) beginnen, in radikaler Form für eine menschenwürdige Existenz jenseits von Arbeits- und Verwertungszwängen zu kämpfen und maximalistische soziale Forderungen in die breite Öffentlichkeit zu tragen, mit ihnen in Ämtern, Betrieben und Stadtteilen präsent sein. Umgekehrt müssen wir soziale Kämpfe außerhalb der Szene zur Kenntnis nehmen, unterstützen und - wo möglich - mit unseren eigenen verbinden. Nur so lassen sich Lösungen für unsere alltäglichen (materiellen) Probleme finden, die nicht an exklusive Kontakte zu Arbeitskollektiven oder Wohnprojekten gekoppelt sind und in Zeiten politischer Schwäche wieder zur Disposition stehe. Zu diesem Zweck wird es notwendig sein, die konkreten sozialen Verhältnisse hierzulande zu untersuchen und die in ihnen enthaltenen Widersprüche und Widerstandspotentiale auszumachen.

6.Bei diesem Versuch müssen allerdings die ökonomistischen Verengungen durchbrochen werden, welche die meisten Globalisierungstheorien beherrschen. Das dominante soziale Verhältnis, das auch zur Meßlatte aller Emanzipationsprozesse gemacht wird, ist in der Regel das herkunfts- und geschlechtsneutrale Klassenverhältnis. Sexistische und rassistische Dimensionen sozialer Umstrukturierung bleiben ebenso ausgeblendet wie Befreiungsperspektiven, die sich nicht im Klassenkampf und der Überwindung des Kapitalverhältnisses auflösen lassen. In der Realität finden sich jedoch auf der untersten Stufe der Ausbeutungspyramide in der Regel (illegale) MigrantInnen, die ihrerseits wieder zu Opfern des Rassismus von sozial über ihnen stehenden "Modernisierungsverlierern" werden. (siehe z.B. die Bauarbeiterproteste in Berlin). Armut ist außerdem immer noch und mit zunehmenden Sozialkürzungen immer mehr weiblich. Frauen sind immer schon latent aus den auf den männlichen "Familienernährer" zugeschnittenen sozialstaatlichen Transferleistungen herausgefallen. Der Abbau von sozialen Dienstleistungen im Gesundheits-, Pflege- und Erziehungsbereich hat deren keineswegs geschlechtsneutrale ,geprivatisierung" zur Folge, d.h. vorher staatlich garantierte Reproduktionsarbeiten fallen wieder in den Bereich unbezahlter (Frauen-) Hausarbeit. Diese Entwicklung wird durch die Verdrängung von Frauen (vor allem aus der Ex-DDR) aus abgesicherter Lohnarbeit und eine weitgehende Beschränkung auf die entgarantierten, anstrengenden und schlechtbezahlten "neuen" Jobs v.a. im Dienstleistungssektor flankiert. Für ein politisches Projekt mit einem Anspruch auf umfassende soziale Befreiung ist es nötig, diese vielfältigen und sich überkreuzenden Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn dadurch vielleicht vorschnelle Hoffnungen auf eine Einheit von Kämpfen und Bewegungen aufgegeben werden müssen.

7.Soziale Kämpfe werden - wenn überhaupt - auch weiterhin im lokal/regional/nationalstaatlich begrenzten Rahmen stattfinden. Trotzdem wird es immer notwendiger, internationale Kontaktnetze aufzubauen, Informationen über Kämpfe in anderen Ländern zu verbreiten und international koordinierte Aktivitäten zu entwickeln. Zum einen können wir so von Kämpfen in anderen Ländern lernen. Die Massenstreiks in Frankreich im Herbst 95 oder in Südkorea in diesem Winter entzündeten sich an Konflikten, die hier prinzipiell auch bestehen, entwickelten aber in der Auseinandersetzung eine Dynamik, die hier kaum vorstellbar ist. Umgekehrt wiesen aber auch diese Kämpfe Beschränkungen auf und endeten schließlich in Kompromissen und reformistischer Befriedung, was in einer hierzulande stattfindenden Glorifizierung v.a. der militanten Formen meist unter den Tisch fällt. Durch internationalen Austausch und Unterstützung könnte versucht werden, eine Kultur des Kämpfens zu "importieren", gleichzeitig die Fehler und Beschränkungen von oftmals gewerkschaßlich oder parteilich kontrollierten Bewegungen zu erkennen und selber zu vermeiden. Vor allem aber wird muß auf diese Weise verhindert werden, das Bewegungen oder Belegschaften in verschiedenen Ländern gegeneinander ausgespielt werden und Kämpfe nationale Borniertheiten entwickeln. Denn soziale Kämpfe, die sich darauf beschränken, lediglich einen "angemessenen Platz im Boot" einfordern, stärken einen nationalistischen Standortdiskurs stärken und reproduzieren rassistische Ausgrenzungsmechanismen.

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