"WIR LEBEN IN EINER POSTMODERNEN WELT"- die Klärung des Begriff der Postmoderne

"Postmodern? - das sind doch diese kitschigen Fassadenbauten aus den 80er Jahren mit bonbonfarbener Muschelkalkverkleidung, aufgeklebten griechischen Giebelchen, und klassizistisch- quadratischen Fensterchen."

Aus dieser Schilderung kann man eine Kritik herauslesen, die immer wieder an der Postmodeme geäußert wird: Sie wäre nichts weiter als ein vergangenheitsverliebtes Konglomerat unterschiedlichster Stile, ein Mischmasch der Beliebigkeit.

Diese populäre Auffassung hat sich fest in den Nacken der Postmoderne festgebissen, was beim Anblick mancher "Architekturkunstwerke" der 80er Jahre nicht verwundert. Und dennoch ist dies ein falsches Bild.

Die Existenz eines solchen Postmodernismus der Beliebigkeit 1 ist nicht zu verleugnen, aber es ist erforderlich, ihm einen anderen, den zweifellos wichtigeren - den wahren und präzisen Postmodernismus, wie ihn Wolfgang Welsch in seinem Buch "Unsere postmoderne Moderne" (Weinheim 1991, 3.Aufl.) nennt - entgegenzusetzen.

Das Grundprinzip der Pluralität bleibt auch bei diesem erhalten, aber nicht im Sinne eines "Anything goes", sondern in ganz anderer Qualität.

Um dies zu verstehen, müssen wir unseren Blick zunächst von der Architektur abwenden. Denn diese ist nicht der einzige Wirkungsbereich der Postmoderne, wie doch so oft angenommen wird. Vielmehr müssen wir unser Augenmerk zuerst auf den großen Pool soziokultureller, philospohischer und kunstgeschichtlicher Entwicklungen richten, denn nur so können wir uns Klarheit verschaffen.

Springen wir also gleich hinein und behaupten:

"WIR ALLE LEBEN IN EINER POSTMODERNEN WELT"

Wenn wir in einer solchen "Nach" - modernen Zeit leben, dann deshalb, weil die modernen Utopien der Vergangenheit zerschlagen sind.

Der Kampf für eine universal gültige Ethik, wie ihn die auf den Ideen des Humanismus gestützten modernen Strömungen führten, ist letztendlich gescheitert. Die Emanzipation der Menschheit in der Aufklärung als verheißungsvolles Bild der Zukunft vor sich, stürmte man fortschrittsgläubig nach vorne, jeden Versuch des Innehaltens und Rückblickens als Verrat an den Maximen entlarvend. So wurde die Wissenschaft und Technik mit ihren immer neuen Erfindungen als Schlüssel zur Verwirklichung jener hehren Gedanken erklärt.

Doch:

Seit dem Bau der Atombombe ist uns der Gedanke einer Heilsfindung in der Wissenschaft verboten.

Soziale Systeme wie der Kapitalismus oder der Marxismus mit ihren schönen Versprechungen sind unglaubwürdig geworden.

Und wenn man auf die Geschichte zurückblickt, wird einem schmerzlich klar, daß gerade die größten Verbrechen an der Menschlichkeit von Systemen mit universalem Rechtsanspruch begangen wurden, die im Namen der Menschlichkeit die Herrschaft ihrer Vernunft und Ordnung in die Welt tragen wollten.

Patentlösungen - dieser Traum der Moderne - kann es nicht geben.

Vielmehr sehen wir uns einer Vielzahl unterschiedlichster Lebensmodelle, Denkweisen und ethischer Systeme gegenüber, von der wir einsehen müssen, daß viele dieser Systeme in ihrem jeweils eigenen Umfeld mit ihren eigenen, regionalen Bedingungen nicht schlechter oder besser sind als andere, daß sie aufgrund ihrer verschiedenen Rahmenbedingungen auch gar nicht ohne weiteres miteinander verglichen werden können. Das hedeutet, Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit stehen fortan im Plural. 2

Dies ist die Erkenntnis, daß wir in einer Postmodemen Welt leben. Und unsere Aufgabe, so heißt es, ist nicht nur die passive Hinnahme dieser Pluralität, sondern unser aktiver Einsatz für sie zur Erhaltung der Freiheit und gegen totalitäre Herrschaltsansprüche.

IST DIE POSTMODERNE WELT EIN"ANYTHING GOES"?

Das könnte sie werden, wenn wir uns nicht auf unsere eigene Verantwortlichkeit besinnen. Ein religiöses, politisches oder soziales System, in das wir hineingeboren werden, welches uns alles vorschreibt und an das wir uns bequem anlehnen können, mit der Einbildung von der moralischen Verantwortung des Einzelnen freigeprochen zu sein, gibt es nicht mehr.

Vielmehr müssen wir lernen, uns wieder auf uns selbst zu verlassen, unserem eigenen moralischen Gewissen zu folgen und mit unserem eigenen Urteilsvermögen zwischen Gut und Böse, richtig und falsch zu unterscheiden. Ob ein Buch der Tugenden uns dabei helfen kann, ist fraglich.

Es ist unsere Pflicht, der radikalen Pluralität der Postmodeme kritisch gegenüberzustehen und sie ständig zu prüfen. Wir dürfen aber nicht der Verlockung nachgeben, sie als Pool zur Befriedigung unserer egoistischen Gelüste zu mißbrauchen und uns mit Trophäen ihrer Vielseitigkeit zu schmücken.

Die postmoderne Welt hat es uns nicht einfacher gemacht im Sinne eines "Anything goes", sondern zwingt uns zu ständiger kritischer Aufmerksamkeit uns und unserer Umwelt gegenüber, wollen vir als moralisches Subjekt überleben.

"MY FINAL PAINTING"

Auch in der Kunst hatte die Postmoderne ihren Anfang im Ende der Modernen Utopien.

Dieses Ende war gekennzeichnet von einer in der Auflösung begriffenen Kunst. Durch ihre eigenen Maximen hatte sich die Avantgarde-Bewegung in der Modernen Kunst erstickt.

Man wollte alles von Grund auf neu gestalten und hatte den Anspruch, selbst die Regeln aufzustellen, nach denen ein Kunstwerk beurteilt werden sollte.

Durch diesen Selbstbegründungsanspruch sagte sich die Moderne radikal von der Vergangenheit ab und führte fortan zu einer Verabscheuung all desjenigen, was schon einmal da gewesen war.

Doch man wollte die Revolution in der Kunst noch weiter treiben, und beanspruchte, die Kunst aus den Museen hinaus ins wirkliche Leben zu tragen - Kunst sollte zur Lebenspraxis werden.

Erst wenn der Mensch in der Lage wäre, sein Leben auf künstlerische Weise selbst zu gestalten, sollte das Projekt der Moderne abgeschlossen sein. "Bald wird es keine Zuschauer mehr geben, alle werden Schauspieler sein ..." (Sergei Tretjakov).

Das Wesentliche Instrument, um sich von der Bildtradition des 19. Jahrhunderts loszusagen, war das der Abstraktion. Diese von der Avantgarde verfochtene Abstraktion war ein radikaler Kampf gegen das Fiktive in der Kunst.

Sie führte von der Zerstörung des Gegenständlichen in der Malerei bis zur Annullierung der Malerei selbst.

Als schließlich nur noch die leere Fläche übriggeblieben war, befestigte Salvatore Mangione eine Tafel auf einer Leinwand, mit den Worten: My final Painting.

Die Kunst war an ein Ende gekommen, sie hatte sich selbst überflüssig gemacht. "Die Avantgarde war daran gescheitert, daß sie der Kunst ihren Kunstcharakter nehmen und das Fiktive durch Realität austreiben wollte, aber dennoch glaubte, die Kunst erhalten zu können"3.

In der Musik führten die gleichen Phänomene zur tonlosen Musik, in der Literatur zur leeren Seite.

Die Avantgarde in der Architektur führte zu einer ähnlichen Leere und Stummheit. Die ursprüngliche Forderung nach einer funktionalen Architektur wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in die Forderung nach Wirtschaftlichkeit übersetzt, was zu der brutalen Containerarchitektur der 50er und 60er Jahre führte. Sämtliche Individualität und Fiktionalität waren verschwunden: Das Haus war zu einer kalten unpersönlichen Wohnmaschine gestutzt worden.

Aus diesem Schweigen, dieser Sackgasse, in der die Avantgarde die Moderne gedrängt hatte, mußte nun ein Ausweg gefunden werden, wollte man zur Kunst zurückfinden.

DIE POSTMODERNE EINSICHT

Die wichtigste Erkenntnis der Postmodeme besteht darin, daß eine Vergangenheit "nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt." 4 Diese Lehre mußte man aus den bisherigen Entwicklungen ziehen.

Daher blickt die Postmoderne auf die vergangenen Jahre der Modernen Kunst zurück und erkennt die Vielschichtigkeit der aus ihr hervorgegangenen Kunstströmungen. Sie stellt sich nicht gegen diese Entwicklungen, sie will die Moderne nicht ablösen, denn so würde sie ja den gleichen Fehler begehen wie die Avantgarde, sondern sie sieht in ihnen einen Vorteil für eine künftige Entwickung.

Ein weiterer Schritt aus der Sackgasse war die Einsicht, daß eine Kunst nur mit dem Element des Fiktiven, dem Erzählerischen überleben kann. "Soll überhaupt noch Kunst möglich sein, so kann sie nur wieder als Fiktion möglich sein" 5. Kunst kann nur existieren, wenn sie Poesie besitzt, wenn sie eine Geschichte erzählt. Nähert sich die Kunst zu sehr an das Leben an, löst sie sich auf; wie es uns in letzter Konsequenz das sog. "Happening" zeigt.

Diese Rückbesinnung auf das Fiktive führte die Malerei wieder in die Gegenständlichkeit. Doch die nuen Motive der postmodernen Malerei sind nicht mehr Landschaftsbilder oder Stilleben, wie man sie von früher kannte. Die in der Modeme gewonnenen Erfahrungen schlagen sich in der Malerei nieder und führen zu einem Spiel mit dem Gegensatz zwischen Fiktivem, Erzählendem und Ahstraktem. Es sind Bilder, die eine Spannung erzeugen, die "den Schwebezustand zwischen Figuration und Abstraktion offenhalten" 6. Ein Kunstwerk erhält durch diesen Schwebezustand die Chance, Dinge auszudrücken, die nicht darstellbar sind. Im unscharfen Flimmern zwischen Figuration und Abstraktion können Begriffe angesprochen werden, die wir uns eigentlich nicht verbildlichen können. Dies ist, was Jean-Francois Lyotard in Hinblick auf die Kantsche Kunstphilosophie als das Erhabene in der Kunst anspricht und was er als den Einsatz der modernen Malerei sieht: "Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, daß es uns nicht zukommt, Wirklichkeiten zu liefem, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann" 7.

Und dies ist nur durch Mehrschichtigkeit und Doppeldeutigkeit zu erreichen, welche die Hauptcharakteristika postmoderner Malerei sind.

Mehrschichtigkeit und Doppeldeutigkeit sind auch in postmoderner Literatur, Film und Architektur zentral.

In der Literatur ermöglichen sie eine Mehrfachkodierung. Ein Postmoderner Text kann in verschiedenen Ebenen gelesen werden. Einem nicht übermäßig literaturbeflissenen Leser mag eine solche Vielschichtigkeit gar nicht auffallen und sein Lesevergnügen auch nicht weiter beeinträchtigen, dem anderen aber können diese Mehrfachkodierungen der Handlung eine neue Nuance geben oder gar eine neue, zweite Geschichte erzählen. Auf diese Weise kann ein spannender Kriminalroman gleichzeitig eine unterhaltsame Auseinandersetzung um ein wissenschaftliches Thema sein.

Eine solche intelligente, oft ironisierende und für den Postmodernismus typische Verbindung von Populärgeschmack und "Insiderwissen'', die den Normalbürger ebenso erreichen kann wie den Spezialisten, ist auch in der Architektur zu beobachten.

DIE BONBONFARBENE KULISSENKISTE

Die Architektur hatte es besonders schwer, sich aus der Zwangsjacke der Avantgarde und im besonderen des Bauwirtschaftsfunktionalismus 8 zu befreien. Doch besonders irn Hinblick auf mögliche städtebauliche Architekturszenarios der Zukunft (in Hongkong waren solche Flächenlandschaften identischer Wohnsilos schon entstanden) erkannte man die Notwendigkeit, der Architektur neben ihrer funktionalen Zweckerfüllung wieder etwas Künstlerisches, etwas Fiktives und Erzählerisches zu gönnen. Damit war es möglich, durch ein Gebäude Gehalte und Meinungen zu verdeutlichen, Bezüge und Kommentare zur Umgebung auszudrücken oder seine Funktion zu verdeutlichen; "Spuren des Lebens" 9 auf das Gebäude zu übertragen.

Dafür eignen sich im Besonderen auch stilistische Anspielungen an frühere Bauepochen. Die Gefahr, mit ihnen die ganze Repräsentationssucht der Vergangenheit wieder aufzuerwecken, ist natürlich gegeben, handelt es sich bei der Baukunst doch um Auftragskunst. Ein guter postmoderner Architekt wird es jedoch verstehen, nicht einem Nostalgie-Historismus zu verfallen, sondern die stilgeschichtlichen Zitate auf ironische, vielschichtige Art und Weise zu gebrauchen, wie ich es schon im Falle der Postmodernen Literatur beschrieben habe. Und ein herausragendes Beispiel postmoderner Architektur könnte auch das ausstrahlen, was Lyotard für die moderne Malerei fordert und damit Baudenkmäler hervorbringen in der einmaligen Brillianz. einer gotischen Kathedrale.

Habe ich Sie jetzt mit der bonbonfarhenen Kulissenkiste versöhnt? Glauben Sie gar zu einem Anhänger der Postmoderne werden zu können?

Ihnen bleibt wohl auch nichts anderes übrig, denn wie gesagt: "Wir leben in einer postmodernen Welt"!

 

 

Quellenliteratur:

1. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1991, 3. Aufl., S. 2.

2. Welsch, Wolfgang: Unsere postmodeme Moderne. Weinheim 1991, 3. Aufl., S. 5.

3. Klotz, Heinrich: Kunst im 20. Jahrhundert, Verlag C. H. Beck 1994, S. 57.

4. Eco, Umberto: Postmodernismus, Ironie und Vergnügen (1984), S. 76.

5. Klotz, Heinrich: Kunst im 20. Jahrhundert, Verlag C. H. Beck 1994, S. 61.

6. Klotz, Heinrich: Kunst im 20. Jahrhundert, Verlag C. H. Beck 1994, S. 105.

7. Lyotard, Jean-Francois: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (1982), S. 203.

8. Klotz, Heinrich: Kunst im 20. Jahrhundert, Verlag C. H. Beck 1994, S. 109.

9. Klotz, Heinrich: Moderne und Postmoderne, S. 109.

Weitere Quellen:

Morawski, Stefan: Polemische Reflexionen über die Postmodeme. in: Kunstforum

Intemational, Band 123, S. 123 ff.

Lützeler, Paul Michael (Hrsg.): Spätmodeme und Postmodeme, Beiträge zur

deutschsprachigen Gegenartsliteratur. Literaturwissenschaft Fischer 1991.

Baumann, Zygmund: Postmoderne Ethik. Hamburger Edition 1995.

Author:

Harald Scholz, Student an der Merz Akademie Stuttgart im 5. Semester (WS)

1997; Studienarbeit im Fach Kulturtheorie bei Andreas Cziepluch.