Nationale Befreiungsbewegung Ost

Das ehemalige DDR-Oppositionsblatt telegraph will gegen die "Kolonialisierung" der Ostgebiete kämpfen

Es ist unerträglich geworden im Ostberliner Prenzlauer Berg. Die Gegend um den Kollwitzplatz ist bereits vor Jahren gänzlich in die Hand der BesatzerInnen gefallen. Doch jetzt breitet sich der Terror der OkkupantInnen auch am Helmholtzplatz aus. Spiegelverglaste Plastikmenschen aus westdeutschen Kleinstädten sitzen breitbeinig vor den neu eröffneten Cafés und schlürfen an einem fort "Hallo Du - für mich bitte einen Milchkaffee, aber mit viieeäl Schaum" und knuspern dazu einen kleinen Schokokeks. Handys bimmeln, während sie sich über "wirklich gaaanz tolle Projekte, sag ich Dir" unterhalten und es hier im Osten echt anregend und richtig dufte finden.

Ja, es ist unerträglich geworden im Prenzlauer Berg. Und das Schlimmste: Die letzte Nische, in der sich so etwas wie Osten, der richtig ostig ist, noch halten konnte, nämlich die Schliemannstraße, ist von der feindlichen Übernahme bedroht. Von Norden droht eine neue italienische Pizzeria und von Süden die lärmende westdeutsche Schickeria. Deshalb sagt der telegraph - das "letzte authentische Blatt der DDR-Opposition" -, das hier seinen belagerten Sitz hat: "'Ostidentität' als Konfrontation mit den durch den Anschluß gesetzten Bedingungen ist ein notwendiger Bezugspunkt für eine linke Politik im Osten, die Revolution als gesellschaftliche Bewegung versteht."

Zur Untermauerung dieser Kernthese hat die telegraph-Redaktion ein ganzes Heft zum Thema "Kolonie Ostdeutschland" herausgegeben, als Startschuß zum antikolonialen Befreiungskampf gewissermaßen. Um es gleich zu sagen: Vieles von dem, was auf den 108 Seiten steht, ist analytisch richtig. Aber die praxisweisende Kernthese birgt erhebliche Gefahren.

"Quasi kolonial"

Der erste Schwerpunkt-Artikel "Ostdeutsche auf dem langen Marsch in die Spaltung" weist zu Recht darauf hin, daß entgegen der allseitigen Beschwörung nationaler Einheit, sich nur eine Minderheit der Ostdeutschen als BürgerInnen der Bundesrepublik fühle. Statt dessen gedeihe eine spezifische Ostidentität, die sich in einer wachsenden "Verklärung" der Vergangenheit, dem Zuspruch für Ostprodukte, Jugendweihen etc. artikuliere. Die Quellen dieses Bewußtseins sucht der Autor in vier Richtungen: "einer gemeinsamen historischen Erfahrung, einem anti-kolonialen Reflex, gemeinsamen Stellungen im Transformationsprozeß und einer abzusehenden strukturellen Marginalisierung im neuen Deutschland."

Praxisrelevant werde diese Identität für die Linke laut telegraph, da in der DDR die "Erfahrung einer größeren Gleichheit gemacht" wurde. Deshalb seien Ostdeutsche heute "mißtrauischer" gegenüber den Verhältnissen und daher auch potentiell offener für "gesellschaftliche Alternativen." Die "massenhafte Erfahrung gesellschaftlichen Umbruchs" habe dazu geführt, daß über das Bestehende hinausgedacht werden könne. Im Gefolge der Wende hätten die "Ostdeutschen die Etablierung einer in weiten Zügen kolonialen Gesellschaftsstruktur erlebt". Während die ostdeutsche Ökonomie "pulverisiert" wurde, etablierte sich eine "quasi koloniale

Wirtschaftsstruktur." "Im Ergebnis dessen ist Herrschaft heute in der DDR nicht allein durch den Besitz von Fabriken oder ein dickes Bankkonto gekennzeichnet, sondern diese beiden Merkmale vereinen sich mit der Tatsache, daß ihre Träger i.A. von außen, aus dem Westen kommen." Aus dieser Gemengelage heraus entstehe Ost-Identität "in der Auseinandersetzung mit der Kolonialisierung." Wie sich der Konflikt und die Selbstdefinition der Ostidentität ausformt, ist nach Ansicht des Autors durchaus offen. Sie könne als "bürgerlicher Opferdiskurs" auftreten, sich "offen reaktionär, sexistisch und rassistisch" zeigen oder aber "Raum für sozialistische Politik" und "revolutionäre Potenzen" bieten, nämlich dann, wenn Ost-Identität auf die massenhafte Erfahrung "sozialer Demokratie" zurückgreift und die übergestülpte neue Ordnung kritisiere.

Der zweite Schwerpunktartikel "Kolonie DDR - Zur ökonomischen Lage in Deutschland" versucht noch etwas Futter für die Thesen des ersten zu bieten. Der Autor konstatiert, daß der "Anschluß" der DDR unter den Vorzeichen eines bewußt durchgeführten Raubzugs der BRD-Eliten durchgeführt worden sei. Das Resultat: "85% der ostdeutschen Vermögenswerte (Fabriken, Häuser und Boden) gehören inzwischen Westdeutschen oder 'Ausländern'". Der Raubzug habe durch die zusammenwirkenden Prozesse der "Zerschlagung und Bemächtigung" so erfolgreich bewerkstelligt werden können.

"Ganz bewußt" habe die Treuhandanstalt die "industrielle Basis in Ostdeutschland" vernichtet, um die Filetstückchen dem Westkapital zu servieren und ansonsten unliebsame Konkurrenz abzuwürgen Gleichzeitig hätten die Westeliten ihren neuen Machtapparat installiert und besetzten alle zentralen Positionen aus den eigenen Reihen. Der Zugewinn an formaler Demokratie hätte so von Anfang an den "Charakter einer Fremdverwaltung".

Dem Westgejammer, der Osten sei ein Subventionsloch, tritt der telegraph mit einer Rechnung gegenüber, welche die Transferleistungen aus dem Westen mit den Mehreinnahmen abgleicht, die Westunternehmen und Staatskasse im Osten realisieren. Das überraschende Ergebnis: "verrechnet mit den 'spezifischen Leistungen' für die neuen Länder bleiben satte 100 Mrd. DM, die jedes Jahr von Ost nach West wandern." Insgesamt sind nach der telegraphen-Rechnung seit dem "Anschluß" 1.350 Mrd. DM an Vermögen vom Osten in den Westen transferiert worden, die dort zur Polarisierung von Armen und Reichen beigetragen haben.

Aufgrund der Deindustrialisierung würde der Osten auf Dauer abhängig bleiben, die Bevölkerung verarme zusehends. In diesem Kontext könnten die "ähnlichen Erfahrungen seit 1990 (É) Koalitionen und Zusammensetzungen ermöglichen, die bei gesellschaftlichen Diskussionsprozessen aus der begrenzenden Enge der politischen Milieus und subkulturellen Nischen herausführt. Dieses höhere Maß an Gesellschaftlichkeit in einer zu entwickelnden politischen Praxis wird sich nur über einen Separatismus materialisieren - verstanden nicht als verkrustete Staatlichkeit, sondern als das Beharren, eigene Wege zu gehen, selbstbestimmte und basisdemokratisch legitimierte Entwicklungen durchzusetzen." Soweit der Originalton Ost.

Ostromantik ...

Während Ostlinke in den letzten Jahren hauptsächlich dadurch (nicht) aufgefallen sind, daß sie sich fast ausschließlich mit der Vergangenheit beschäftigten, ist der Vorteil dieses Ansatzes, daß er versucht, Perspektiven zu entwickeln. Dabei tritt er aber in eine Falle. Denn der politische Verlauf der Vereinigung stellte sich anders dar, als es sich die OstromantikerInnen im nachhinein zurecht träumen. Und genau daraus ergeben sich falsche politische Perspektiven.

Die Verwendung des Begriffs "Kolonialisierung" impliziert die Errichtung einer Fremdherrschaft. Genau dies versuchen die Autoren des telegraph nachzuweisen. In Bezug auf die Transformation der Eigentumsverhältnisse ist ihrer Argumentation nichts entgegenzusetzen, doch der politische Prozeß, der die sozialen Transformationen in Ostdeutschland ermöglichte, hat nichts mit der Errichtung einer "Kolonie" oder einem "Anschluß" zu tun. Es war schließlich die überwältigende Mehrheit der DDR-BürgerInnen, die das Volkseigentum so schnell als möglich loswerden wollte. "Helmut nimm uns an die Hand und führ uns ins Wirtschaftswunderland!" hieß die Parole der Massenbewegung spätestens seit November 1989. Alle Versuche der Ostlinken, sei es aus dem Schoß der alten Staatspartei oder aus den Zirkeln der DDR-Opposition, scheiterten mit dem Versuch, die Eigenstaatlichkeit der DDR und das Gemeineigentum an den

Produktionsmitteln im Verlauf der Wende zu verteidigen. Und sie scheiterten damit hauptsächlich, weil der "Sozialismus" in der

DDR-Gesellschaft gründlichst diskrediert war und Alternativen eines "Dritten Weges" jenseits von Staatssozialismus und Westkapitalismus nie über den Rand einer isolierten und sich nur schwach artikulierenden Strömung hinaus gedacht wurden. Das Ende der DDR ist genauso wenig Resultat einer Geheimdienstverschwörung wie einer vom Westen gesteuerten Subversion, sondern vielmehr dem politischen und wirtschaftlichen Bankrott der DDR selbst geschuldet. Wer heute - nachdem der Markt seine destruktive

Wirkung entfaltet hat und die große Desillusionierung eingetreten ist versucht, den Charakter der "Wende" umzudeuten, versucht eine Klientel zu bedienen, die ihr eigenes Handeln im Herbst 1989 verdrängt und andere für ihr Schicksal verantwortlich macht.

Auch nach dem unmittelbaren Vereinigungstaumel manifestierten sich kaum Bewegungen gegen Privatisierung oder zumindest zur Verteidigung von Arbeitsplätzen, Kitas, billigen Wohnungen und Kulturhäusern. Sehen wir von einzelnen, isolierten Arbeitskämpfen wie Bischofferode, Henningsdorf aufflackernden MieterInnenprotesten und dem vorüberhuschenden Phantasma der "Komitees für Gerechtigkeit" ab, hat sich nie eine außerparlamentarische Bewegung materialisiert, und die parlamentarische Ostvertretung PDS hat den Transformationsprozeß der Eigentumsverhältnisse ebenfalls nie grundsätzlich in Frage gestellt, sondern lediglich seine sozialen Folgen kritisiert.

Vergegenwärtigt man sich aber die Ausmaße der Betriebsschließungen und Kahlschlagpolitik ist das höchst bemerkenswert, denn es zeigt zweierlei: Einerseits, daß die "Errungenschaften" der DDR von ihren ehemaligen BürgerInnen auch nach dem unmittelbaren Wenderausch offensichtlich für kaum verteidigungswert gehalten wurden und andererseits die weitgehende Unfähigkeit der DDR-Bevölkerung, ihre Interessen kollektiv und selbstorganisiert zu vertreten.

Die Unzufriedenheit mit den nicht erfüllten Wendeträumen und den tatsächlich tiefgreifenden sozialen Angriffen führte statt dessen zu einer rückbezogenen partiellen Verklärung der Zeiten, als die Welt noch in Ordnung war, nämlich in der ordentlichen DDR, als noch jeder seinen zugewiesenen Platz hatte und auch gebrechliche Omas ohne Angst im Dunkeln nach Hause laufen konnten. Auch wenn eine Identität in Ostdeutschland existiert, die sich auf der Grundlage einer Erinnerungsgemeinschaft der ehemaligen DDR-Bürger konstituiert, hat dies mit antikolonialem Bewußtsein wenig zu tun, denn der Adressat der Klagen ist die gesamtdeutsche Nation, von der sich so mancher der OstbürgerInnen, die sich doch nichts sehnlicher gewünscht haben, als ein Volk zu sein, heute vernachlässigt fühlt.

... ist potentiell gefährlich

Daß die "Erfahrung einer größeren Gleichheit" das maßgebliche Element einer emanzipatorisch wirkenden Ostidentität sein soll, ist ein zweites falsches Postulat des telegraph. Dies gerade in einer ehemaligen DDR-Oppositionszeitschrift zu lesen, entbehrt nicht einer gewissen Komik, denn die Kritik der DDR-Oppositionellen hatte nicht zuletzt den spießigen, kleinfamiliären, autoritären Charakter der DDR-Gesellschaft zum Gegenstand. Sicher, in Gesellschaft für Sport und Technik, FDJ und Jungen Pionieren konnte die Erfahrung von Gleichheit gemacht werden - es wurden Uniformen getragen und alle sangen die gleichen Lieder. Aber wie kann linke Politik gerade daran anknüpfen? Es ist die Romantisierung der "Idylle" der gesellschaftlichen Festgefügtheit, Sicherheit und

Überschaubarkeit, die viele Menschen heute vermissen und die sich in sogenannter Ostidentität äußert. Emanzipatorisches Potential enthält sie kaum. Selbst in Bezug auf die angebliche solidarischere Grundhaltung sind Frage- und Ausrufezeichen angebracht. Denn auf wen bezieht sich diese Haltung? Doch nur auf die Erinnerungsgemeinschaft ehemaliger DDR-BürgerInnen! In ihrer Essenz handelt es sich deshalb um eine korporative Identität, die alle abwehrt, die von außen kommen und nicht einen bestimmten Erfahrungshorizont teilen. Die Ost-Volkssolidarität ist als ausschließend, nicht einschließend und deshalb potentiell gefährlich - für alle, die keine OstlerInnen sind. Sie stellt nicht die Klassenfrage, sondern "ethnisiert" eine Differenz auf eine Weise, die nicht zu ihrer emanzipatorischen Überwindung beiträgt. Ein Bezug auf "Ostidentität" birgt für linke Politik daher die Gefahr - ungewollt - zu Rassismen und Fremdenfeindlichkeit beizutragen. Wenn beispielsweise, wie vom telegraph anvisiert, die "Entostung" von Grundbesitz- und Produktionsmitteln angegriffen werden soll, so ist es doch in erster Linie der Imbissbudenbesitzer aus der Türkei oder Vietnam, der als angreifbares Objekt tatsächlich zur Verfügung steht.

Sackgasse statt Abkürzung

Letztlich drängt sich nach der Lektüre des telegraphs der Eindruck auf, daß im Versuch, einen Weg aus der tatsächlich eher schlechten Ausgangslage für linksradikale Ansätze - nicht nur in Ostdeutschland, aber eben auch dort - zu finden, die Imagination eines revolutionären Subjekts stattfindet, das verklärt und konstruiert wird, aber nicht wirklich existent ist. Diesen Prozeß kennen Westlinke aus den 70er Jahren, als "die Arbeiterklasse" dafür herhalten mußte und später dann in trikontinentale Befreiungsbewegungen alle unerfüllten Hoffungen projeziert wurden.

Kollektiver Widerstand ist unter den Bedingungen einer zerschlagenen Industrie und des gesellschaftlichen Zerfalls schwer zu organisieren. Das Moment eines - vielleicht 1990-1992 möglich gewesenen - Abwehrkampfes ist längst vorbei. Daran hatte im übrigen auch die DDR-Opposition einen wesentlichen Anteil. Viele zogen sich nach der unerwarteten Wende aus der politischen Aktivität ganz zurück, andere, die früher Rosa Luxemburg zitierten, offenbarten sich auf einmal als begeisterte Konservative. Und der größte Teil der übriggebliebenen kultivierte ihr abgeschlossene Zirkelwesen weiter, ohne eine ernstliche Anstrengung zu unternehmen, ihre

Politik den neuen Bedingungen anzupassen. An der bisher weitgehend unterbliebenen Zusammenarbeit von Linken aus Ost und West haben nicht nur die Arroganz und Selbstbezogenheit vieler Westlinker ihren Anteil, sondern auch die Abkapselung der Ostlinken.

"Identitäten sind im Fluß - also beeinflußbar", schreibt der telegraph. Das ist richtig. Deshalb muß die Linke eine Politik entwickeln, die sich von autonomen Autismus und Nischenpolitik genauso verabschiedet, wie von Thälmann-Revival-Shows der Kommunistischen Plattform oder sonstigem Ostkitsch. Um gesellschaftlich wirken zu können, muß in die Gesellschaft hinein Politik betrieben werden, ohne aber Konzessionen an letztlich reaktionäre Einstellungen wie "Ostidentität" zu machen. "Nationale Befreiungsbewegungen" können nur dann emanzipatorisches Potential entfalten, wenn sie eine universale Vision von Befreiung entwickeln und nicht, wenn sie sich aus der Verklärung der Vergangenheit eines autoritären Staates speisen. Natürlich ist es wichtig, ostspezifische Probleme und Diskriminierungen, die als solche durchaus existent sind, als Ausgangspunkt linksradikaler Politik zu nehmen, aber nur verbunden mit einer klaren internationalistischen, antirassistischen, antipatriarchalen Perspektive und ohne den Klassenbezug zu verlieren.

Diese Politik kommt momentan nicht sonderlich gut an. Es gibt als Alternative aber keine Abkürzungen, sondern nur Sackgassen.

BK

telegraph. ostdeutsche quartalsschrift 1/1998, 6 DM

erhältlich über: Redaktion telegraph, Schliemannstr. 22, 10437 Berlin

aus: Arranca! nummer 15