Neoliberale Standortpolitik und Krise der Lohnarbeit

Prekär leben und sparen

"Wir sind von einer neuen Krankheit befallen, deren Namen einige Leser noch nicht gehört haben mögen, von der sie aber in den nächsten Jahren noch recht viel hören werden, nämlich technologischer Arbeitslosigkeit. Das bedeutet Arbeitslosigkeit, weil unsere Entdeckung von Mitteln zur Ersparung von Arbeit schneller voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendung für die Arbeit zu finden." John M. Keynes (1956: S. 267).

Der politische Mainstream überbietet sich mit Schlagworten, wenn es um die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit geht. Doch nicht Arbeitslosigkeit selbst ist das Problem, sondern sie wird es erst dadurch, daß Einkommens- und Lebenschancen mit Erwerbsarbeit verknüpft sind. Nach wie vor ist das Leitbild des sog. Normalarbeitsverhältnisses wirksam (Vollzeit, Tarifvertrag, Sozialversicherung, unbefristet...) - sowohl hinsichtlich gesellschaftlicher Anerkennung und Selbstachtung als auch hinsichtlich des Zugangs zu materiellen Gütern und Dienstleistungen. Allerdings ist das Wirtschaftssystem nicht mehr in der Lage, allen den Zugang zu einem solchen Arbeitsverhältnis zu gewährleisten. Umgekehrt könnte die Existenz von Massenarbeitslosigkeit dem Individuum ermöglichen, über einen größeren Anteil an Zeit frei zu verfügen.

1. Wie ist das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit entstanden?

Prinzipiell ist der entscheidende ursächliche Faktor struktureller Arbeitslosigkeit zunächst eine Steigerung der Produktivität, das heißt die Senkung der zur Herstellung eines bestimmten Gutes erforderlichen menschlichen Arbeitszeit. Bis in die 70er (d.h. während der Phase des Fordismus) konnten die so freigesetzten Arbeitskräfte durch die Entstehung neuer Industriezweige und durch die Ausweitung des Dienstleistungssektors weitgehend aufgefangen werden. Während zunächst die Erhöhung der Produktivität neben dem Einsatz von Maschinen vornehmlich durch tayloristische Arbeitsorganisation erzielt wurde, tritt nunmehr die Automatisierung von Arbeitsprozessen mittels Computertechnik und Roboter sowie eine Intensivierung der gesamten Organisations- und Produktionsabläufe (z.B. just-in-time Produktion usw.) in den Vordergrund. Das Ausmaß der überflüssig gewordenen menschlichen Arbeitskraft übertrifft dabei bei weitem das Potential neuer Produktions- und Dienstleistungszweige, neue Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Dem so entstandenen Überangebot an gering und durchschnittlich qualifizierten Arbeitskräften steht eine steigende Nachfrage nach hochqualifizierten Kräften gegenüber, die die automatisierten Produktionsprozesse steuern und durch Innovationen effektivieren. Dieser Trend zeigt sich auch im Dienstleistungsbereich, in dem bestimmte Arbeitsvorgänge zunehmend durch Computer erledigt werden (z.B. Homebanking). Ein Beispiel dafür wäre, daß "1920 (...) noch 85% des für den Bau eines Autos aufgewandten Geldes an Arbeiter und Investoren (gingen). 1990 belief sich deren Anteil nur noch auf 60%, die restlichen 40% gingen an Designer, Ingenieure, Stylisten, Planer, Strategen, Finanzexperten, Manager, Anwälte, Werbe- und Absatzfachleute usw." (J.Rifkin, 1995, S. 140). Hiermit geht entsprechend ein stärkeres Lohngefälle einher.

Lohndumping und Standortpolitik

Zur tendenziellen Verbilligung der durchschnittlich ausgebildeten Arbeitskraft durch Überangebot kommen Lohndumpingmechanismen hinzu, die von einem sich verschärfenden Standortwettbewerb und dem damit einhergehenden Abbau des Sozialstaats hervorgerufen werden. Hierbei sind zwei Entwicklungen zu berücksichtigen:

Die zunehmende Verflechtung des Welthandels führt zu einer Konkurrenz zwischen Nationalstaaten, in der durch vergleichsweise hohe Löhne und Lohnnebenkosten sowie Steuern verursachte Produktionskosten zu einem Standortnachteil werden. Transnationale Konzerne nehmen die Möglichkeit wahr, die Entscheidung über den Standort ihrer Produktion (sowohl den der Endproduktfertigung als auch den der Zulieferbetriebe) unter anderem von den jeweiligen Lohnkosten abhängig zu machen. Sie sind "in immer stärkerem Maße in der Lage, den Produktionsprozess in unterschiedliche Stufen zu untergliedern und diese jeweils (...) in dem Land mit größten komparativen Vorteilen anzusiedeln, woraus eine Ausweitung des Handels mit Vorprodukten und Halbfertigwaren erfolgte." (J. Perraton u.a., 1998, S.146).

Dies versetzt transnationale Konzerne in die Position, durch die bloße Androhung der Produktionsverlagerung erheblichen Einfluß auf die Politik der jeweiligen Nationalstaaten zu nehmen. Die Rede von der "Globalisierung" ist - neben den realen Veränderungen in der Ökonomie - ein diskursives Instrument, mit dem Unternehmen/Arbeitgeberverbände gegenüber Regierungen die sog. "komparativen Vorteile" sozusagen präventiv einfordern. Desweiteren dient die Rede von den Sachzwängen der Globalisierung Regierungen dazu, Kürzungen im Sozialbereich zu legitimieren.

2. Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse

In der BRD ist etwa die Hälfte der 40 Mio. Erwerbspersonen, also etwa 20 Mio. arbeitslos oder prekär beschäftigt (inclusive ABM und Umschulung/Weiterbildung).

Prekäre Arbeitsverhältnisse zeichnen sich durch eines oder mehrere der folgenden Merkmale aus:

- aufgeweichter oder nicht vorhandener Rechtsschutz und Kündigungsschutz

- Die Lohnhöhe ist nicht tariflich festgelegt bzw. schwankt, da sie "leistungsbezogen" ist bzw. reicht oftmals nicht aus, die Lebenshaltungskosten zu decken.

- fehlende Mitbestimmung durch Betriebsräte o.ä.

- Unstetigkeit der Beschäftigung: die Wochen- oder Monatsarbeitszeit schwankt und kann so zu Unsicherheiten in der Lebensplanung führen (Arbeit auf Abruf etc.).

- Fehlende Sozialversicherung: kein Krankengeld, keine Rentenansprüche, kein Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung

Beispiele für prekäre Arbeitsverhältnisse sind Scheinselbständigkeit, Leiharbeit, Ein-Personen-Dienstleistungsbetriebe, 620-Mark-Jobs usw.

Eine Beschäftigung muß noch nicht prekär sein, wenn sie bloß eines dieser Merkmale aufweist. Die Zunahme der Prekarisierung, d.h. das vermehrte Auftreten dieser Merkmale in verschiedensten Kombinationen, führt zu einem Ausbau des Niedriglohnsektors, dem Abbau sozialer Leistungen und somit insgesamt zu einer Verschlechterung der Lage der Arbeiten- wollenden und Arbeiten-Müssenden.

Gender & Prekarisierung

Frauen finden sich traditionell eher in Arbeitsplätzen, die niedrigere Qualifikationen erfordern oder erst gar nicht als Arbeitsplätze anerkannt werden (Reproduktionsarbeit). (Die Erwerbsquote von Frauen beträgt in der BRD seit den 80er Jahren ca. 50%, davon sind immerhin 34% Teilzeitarbeitsplätze (4% bei Männern), die Bezahlung von Frauen entspricht im Durchschnitt - wie auch im übrigen Europa - ca. 75% der Bezahlung von Männern) . Die Beschäftigung von Frauen wird - ebenso wie die von ImmigrantInnen - häufig niedriger entlohnt. Die Ausweitung von Niedriglohnjobs bringt zwar auch die Ausweitung der Beschäftigung von Frauen insgesamt mit sich, aber eben zu schlechten Bedingungen. Die Zunahme weiblicher Beschäftigung in der Erwerbsarbeit ist also oft in keinster Weise Folge der Angleichung geschlechtsspezifischer Arbeitsbedingungen, sondern umgekehrt Folge des allgemeinen Lohndumpings. Diese Arbeitsplätze sind meist lokal gebunden und werden deshalb bei der gängigen Globalisierungsdebatte, die die Ortsungebundenheit durch Mobilität und Technisierung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, nicht berücksichtigt. Sie bilden jedoch die materielle, produktionsbezogene Grundlage dieser Entwicklung. Eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung von Niedriglöhnen spielt der "informelle Sektor": Heimarbeit, Straßenverkauf, Botendienste, illegale Arbeit - und Freie Produktionszonen. Diese breiten sich z.B. in der Textilökonomie verschiedener Trikont-Länder in Mittelamerika und Südostasien aus: Dort lassen z.B. Nike und Adidas unter brutalsten Arbeitsbedingungen und unter jeglicher Abwesenheit sozialer Absicherung durch andere Unternehmen produzieren, eine Mehrzahl der ArbeiterInnen stellen jeweils Frauen. Doch auch in der USA und in der EU-Peripherie (Irland, Griechenland, Portugal, Spanien) nimmt informelle Beschäftigung zu. Die informelle Beschäftigung beruht zu einem beträchtlichen Teil auf der Aufsplitterung der Unternehmensstrukturen: Großkonzerne vergeben ihre Aufträge an Zulieferer und Subunternehmen ohne Tarifverträge und gewerkschaftliche Präsenz.

Zusammenfassung:

Die Arbeitsbedingungen (Lohnhöhe, sonstige Sicherheiten und Rechte) verschlechtern sich: der Preis der Ware Arbeitskraft verbilligt sich OECD-weit, die Kaufkraft der Lohnabhängigen sinkt, die Erhaltung grundsätzlicher Bestimmungen des Arbeitsrechts wird durch Informalisierung der Arbeitsverhältnisse zunehmend umgangen.

Der Arbeitsmarkt wird stärker als bisher in verschiedene Segmente aufgesplittet, die untereinander wiederum stark hierarchisiert sind und sich hinsichtlich Bezahlung und Bedingungen unterscheiden - sowohl entlang von Geschlecht und Ethnie wie auch von Hoch- und Niedriglohnsektoren zwischen und innerhalb von Branchen.

Betriebliche Mitbestimmung wird zurückgedrängt und Umverteilung durch Tarifabschlüsse findet quasi nicht mehr statt.

3. Arbeit ist Opium für das Volk

Unter einer sozialdemokratischen Regierung ist eine Ausbreitung des staatlich geförderten oder unterstützten Niedriglohnsektors zu erwarten in Form von Zwangsarbeit für Sozialhilfe- und Arbeitslosengeld-EmpfängerInnen mit Modellen wie "Arbeit statt Sozialhilfe", "Kombilohn" usw. Wahrscheinlich ist außerdem eine Einbeziehung der 620-Mark-Jobs in das Sozialversicherungssystem.

Der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit orientiert sich am Fetisch Arbeitslosenzahlen. Dies ist Ausdruck des starren Festhaltens an der Kopplung von Arbeit und Einkommen: Einfachste Handlungsmaxime der Sozialdemokraten - auch in anderen EU-Staaten wie Belgien und Großbritannien - die sich zudem in den neoliberalen Trend einfügt, ist also die Schaffung von Niedriglohnjobs und die Einführung von Arbeitszwang, um die Zahl der Arbeitslosen zu senken und zudem die Sozialhaushalte von Kosten zu entlasten.

Für die gemeinsame, z.B. gewerkschaftliche Interessenverteidigung und -vertretung ergibt sich in der derzeitigen Beschäftigungsstruktur (Vollzeit-, flexible, prekäre, etc. -Beschäftigung) das Problem, daß die jeweiligen Interessen der Angehörigen der fragmentierten Gruppen untereinander stark divergieren. Für die einen sind flexible Beschäftigungsverhältnisse durchaus von Vorteil, da sie mehr Möglichkeiten der eigenen Lebensgestaltung erlauben (falls gut bezahlt; z.B. längerer (unbezahlter) "Urlaub" usw.), für andere bieten sie eine mangelhafte Absicherung und Kontinuität (vor allem bei längerer Arbeitslosigkeit und zunehmendem Alter), für wieder andere, z.B. Rentner bieten sie ein willkommenes Nebenverdienst. In Betrieben, in denen sowohl eine Kernbelegschaft beschäftigt ist als auch Hilfsarbeiter und andere ArbeiterInnen (Leiharbeit, Zeitarbeit...) prekär beschäftigt sind, stellt sich ebenfalls das Problem der abweichenden Interessen. Eine gegenseitige Solidarität wird dadurch erschwert, daß die Kernbelegschaften aufgrund der defensiven eigenen Situation eher eine Herabstufung auf das Niveau der prekär oder in Zulieferbetrieben Beschäftigten befürchten.

Hinzu kommen die Spaltungslinien entlang rassistischer Kriterien:

Besser bezahlte Arbeit wird eher an Deutsche vergeben und schlechtbezahlte eher an Migrantinnen. Außerdem vertreten Teile der Lohnabhängigen die Ansicht, daß Deutsche gegenüber Nicht-Deutschen in der Verteilung von Arbeit und Einkommen privilegiert werden sollten. Auf Unternehmerseite stellt sich dies als eine günstige Situation dar, in der sie die jeweiligen Gruppen gegeneinander ausspielen kann.

4. Anti-Neoliberalismus: Jenseits des absoluten Wissens

Die neoliberale Standortpolitik orientiert sich am Dogma der neoklassischen Ökonomie, nach dem niedrigere Löhne und niedrigere Steuern für Unternehmen langfristig zu Aufschwung, also: mehr Beschäftigung und höheren Löhnen für alle führen. Die Steuer- und Lohnsenkungen haben zunächst einmal in der BRD dazu geführt, daß die Lohnstückkosten im EU-Vergleich niedriger gestiegen sind als anderswo, was zum Ausbau der Exporte aufgrund dieses Wettbewerbsvorteils geführt hat, aber nicht zu mehr Beschäftigung oder höheren Löhnen in der BRD. Für die exportorientierten deutschen Großkonzerne ist die Wirtschaftskrise längst vorbei! Diese konnten in den letzten 3-4 Jahren ihre Märkte ausweiten und haben Gewinne eingefahren, die sie jetzt zum Aufkauf von anderen Konzernen ausgeben können (siehe VW, Mercedes).

Für die BRD als Nationalökonomie heißt das, daß durch die Abkopplung der Gewinne und der Produktivitätsentwicklung von den Lohneinkommen die Wertschöpfung die Massenkaufkraft "abgehängt" hat und Produktivitätsfortschritte sowie Unternehmensgewinne keine "positiven" Auswirkungen im Sinne eines makroökonomischen Wirtschaftswachstums im Rahmen der Nationalökonomie der BRD haben. Solange die Gewinne eines schmalen Segments von Unternehmen mit immer weniger Beschäftigten nicht umverteilt werden (bzw. die Arbeitsstunden und hohen Löhne der hochqualifizierten Angestellten), wird es weder neue Arbeitsplätze mit akzeptabler Bezahlung noch eine Milderung der Unterkonsumtionskrise geben. Die Unterkonsumtion führt dazu, daß aufgrund mangelnder Nachfrage auf dem Binnenmarkt noch mehr Leute entlassen werden und vor allem kleine und mittlere Unternehmen Probleme bekommen. Statt der Forderung nach mehr Arbeit geht es vielmehr um die Forderung nach einer breiten Beteiligung an den durch die hohe Produktivität erwirtschafteten Gewinnen. Diese Produktivitätsgewinne müssten durch Massnahmen wie einer gerechteren Verteilung von materiellem Reichtum verbunden mit radikalen Arbeitszeitverkürzungen über die ganze Gesellschaft verteilt werden.

Es muß ins öffentliche Bewußtsein gerückt werden, daß das neoliberale Dogma (dem auch ein Großteil der SPD anhängt), nach dem weitere Kostensenkungen für Unternehmen (z.B. Senkung der Lohnnebenkosten) zu mehr Beschäftigung und mehr Wohlstand führen, kompletter Unsinn ist, daß eine Weiterführung dieser Politik genau das Gegenteil zur Folge haben wird.

Uns bleibt in unserer Position nichts anderes übrig, als die Mythen der herrschenden Wirtschaftspolitik zu entlarven und ihre Rolle bei dem materiellen Ausschluß immer größerer Teile der Bevölkerung sowohl in der BRD wie in der EU als auch international zu beschreiben und unsere Forderungen sowie unseren politischen Widerstand gegen diese umfassende Enteignung von Verfügungsgewalt über das eigene Leben zu artikulieren:

- Entkopplung von Arbeit und Einkommen: Grundsicherung 1500DM + Miete für alle.

- radikale Arbeitszeitverkürzung, Umverteilung der Arbeit!

- Abschaffung des Arbeitszwangs!

Anti-Neoliberalismus-Gruppe Berlin, September 1998

Jeremy Rifkin (1995): Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt a.M./New York;

John Maynard Keynes (1956): Politik und Wirtschaft, Männer und Probleme, Ausgewählte Abhandlungen, Tübingen;

Jonathan Perraton u.a. (1998): Die Globalisierung der Wirtschaft, in: Ulrich Beck (Hg.): Politik der Globalisierung, Frankfurt a. M.

Dean Martin: No roses for a blue lady / AG Neue Heimat: Prekarisierung, beide in: express 4/98, Offenbach

Uwe Becker: Beschäftigungswunderland Niederlande?, in: Das Parlament, aus Poltitik und Zeitgeschichte, 6. März 1998

Brigitte Young: Gender und Globalisierung, in PROKLA, Juli 1998

Michael Wendl: Die SPD - ratlos zwischen Angebots- und Nachfragepolitik, in Widerspruch 34, Dezember 1997, Zürich.