Theodor W. Adorno
ERZIEHUNG NACH AUSCHWITZ
Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte er was Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Daß man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewusst macht, zeigt, daß das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, daß die Möglichkeit der Wiederholung, was den Bewusstseins- und Unbewusstseinsstand der Menschen anlangt, fortbesteht. Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Mass kulminierte. Unter den Einsichten von Freud, die wahrhaft auch in Kultur und Soziologie hineinreichen, scheint mir eine der tiefsten die, daß die Zivilisation ihrerseits das Antizivilisatorische hervorbringt und es zunehmend verstärkt. Seine Schriften "Das Unbehagen in der Kultur" und "Massenpsychologie und Ich-Analyse" verdienten die alllerweiteste Verbreitung gerade im Zusammenhang mit Auschwitz. Wenn im Zivilisationsprinzip selbst die Barbarei angelegt ist, dann hat es etwas Desperates, dagegen aufzubegehren.
Die Besinnung darauf, wie die Wiederkehr von Auschwitz zu verhindern sei, wird verdüstert davon, daß man dieses Desperaten sich bewusst sein muss, wenn man nicht der idealistischen Phrase verfallen will. Trotzdem ist es zu versuchen, auch angesichts dessen, daß die Grundstruktur der Gesellschaft und damit ihre Angehörigen, die es dahin gebracht haben, heute die gleichen sind wie vor 25 Jahren. Milionen schuldloser Menschen - die Zahlen zu nennen oder gar darüber zu feilschen, ist bereits menschenunwürdig – wurden planvoll ermordet. Das ist von keinem Lebendigen als Oberflächenphänomen, als Abirrung vom Lauf der Geschichte abzutun, die gegenüber der grossen Tendenz des Fortschritts, der Aufklärung, der vermeintlich zunehmenden Humanität nicht in Betracht käme. Daß es sich ereignete, ist selbst Ausdruck einer überaus mächtigen gesellschaftlichen Tendenz. Ich möchte dabei auf eine Tatsache hinweisen, die sehr charakteristisch in Deutschland kaum bekannt zu sein scheint, obwohl ein Bestseller wie "Die 40 Tage des Musa Dagh" von Werfel seinen Stoff daraus zog. Schon im ersten Weltkrieg haben die Türken - die sogenannte Jungtürkische Bewegung unter der Führung von Enver Pascha und Talaat Pascha - weit über eine Million Armenier ermorden lassen. Höchste deutsche militärische und auch Regierungsstellen haben offensichtlich davon gewusst, aber es strikt geheimgehalten. Der Völkermord hat seine Wurzel in jener Resurrektion des angriffslustigen Nationalismus, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern sich zutrug.
Man wird weiter die Erwägung nicht von sich abweisen können, daß die Erfindung der Atombombe, die buchstäblich mit einem Schlag hunderttausende auslöschen kann, in denselben geschichtlichen Zusammenhang hineingehört wie der Völkermord. Die sprunghafte Bevölkerungszunahme heute nennt man gern Bevölkerungsexplosion: es sieht so aus, als ob die historische Fatalität für die Bevölkerungsexplosion auch Gegenexplosionen, die Tötung ganzer Bevölkerungen, bereit hätte. Das nur, um anzudeuten, wie sehr die Kräfte, gegen die man angehen muss, solche des Zuges der Weltgeschichte sind.
Da die Möglichkeit, die objektiven, nämlich gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, die solche Ereignisse ausbrüten, zu verändern, heute aufs äusserste beschränkt ist, sind Versuche, der Wiederholung entgegenzuarbeiten, notwendig auf die subjektive Seite abgedrängt. Damit meine ich wesentlich auch die Psychologie des Menschen, die so etwas tut. Ich glaube nicht, daß es viel hülfe, an ewige Werte zu appellieren, über die gerade jene, die für solche Untaten anfällig sind, nur die Achseln zucken würden; glaube auch nicht, Aufklärung darüber, welche positiven Qualitäten die verfolgten Minderheiten besitzen, könnte viel nutzen. Die Wurzeln sind in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern, die man unter den armseligsten Vorwänden hat ermorden lassen. Nötig ist, was ich unter diesem Aspekt einmal die Wendung aufs Subjekt genannt habe. Man muss die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden, muss ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie
abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewusstsein solcher Mechanismen erweckt. Nicht die Ermordeten sind
schuldig, nicht einmal in dem sophistischen und karikierten Sinn, in dem manche es heute noch konstruieren möchten. Schuldig sind allein die, welche besinnungslos ihren Hass und ihre Angriffswut an ihnen ausgelassen haben. Solcher Besinnungslosigkeit ist enntgegenzuarbeiten, die Menschen sind davon abzubringen, ohne Reflexion auf sich selbst nach aussen zu schlagen. Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion. Da aber die Charaktere insgesamt, auch die, welche im späteren Leben die Untaten verübten, nach den Kenntnissen der Tiefenpsychologie schon in der frühen Kindheit sich bilden, so hat Erziehung, welche die Wiederholung verhindern will, auf die frühe Kindheit sich zu konzentrieren. Ich nannte Ihnen Freuds These vom Unbehagen in der Kultur. Sie ist aber umfassender noch, als er sie verstand; vor allem, weil unterdessen der zivilistorische Druck, den er beobachtet hat, sich bis zum Unerträglichen vervielfachte. Damit haben auch die Tendenzen zur Explosion, auf die er
aufmerksam machte, eine Gewalt angenommen, die er kaum absehen konnte. Das Unbehagen in der Kultur hat jedoch - als Freud nicht verkannte, wenn er dem auch nicht konkret nachging – seine soziale Seite. Man kann von der Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt reden, einem Gefühl des Eingesperrtseins in einem durch und durch vergesellschafteten, netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang. Je dichter das Netz, desto mehr will man heraus, während gerade seine Dichte verwehrt, daß man herauskann. Das verstärkt die Wut gegen die Zivilisation. Gewalttätig und irrational wird gegen sie aufbegehrt.
Ein Schema, das in der Geschichte aller Verfolgungen sich bestätigt hat, ist, daß die Wut gegen die Schwachen sich richtet, vor allem gegen die, welche man als gesellchaftlich schwach und zugleich - mit Recht oder Unrecht - als glücklich empfindet. Soziologisch möchte ich wagen, dem hinzuzufügen, daß unsere Gesellschaft, während sie immer mehr sich integriert, zugleich Zerfallstendenzen ausbrütet. Diese Zerfallstendenzen sind, dicht unter der Oberfläche des geordneten, zivilistorischen Lebens, äusserst weit fortgeschritten. Der Druck des herrschenden Allgemeinen auf alles Besondere, die einzelnen Menschen und die einzelnen Institutionen, hat eine Tendenz, das Besondere und Einzelne samt seiner Widerstandskraft zu zertrümmern. Mit ihrer Identität und ihrer Widerstandskraft büssen die Menschen auch die Qualitäten ein, kraft deren sie es vermöchten, dem sich entgegenzustemmen, was zu irgendeiner Zeit wieder zur Untat lockt. Vielleicht sind sie kaum noch fähig zu widerstehen, wenn ihnen von etablierten Mächten befohlen wird, daß sie es abermals tun, solange es nur im Namen irgenwelcher halb- oder gar nicht geglaubter Ideale geschieht.
Spreche ich von der Erziehung nach Auschwitz, so meine ich zwei Bereiche: einmal Erziehung in der Kindheit, zumal der frühen;
dann allgemeine Aufklärung, die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft, das eine Wiederholung nicht zulässt, ein Klima also, in dem die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, einigermassen bewusst werden. Ich kann mir selbstverständlich nicht anmassen, den Plan einer solchen Erziehung auch nur im Umriss zu entwerfen. Aber ich möchte wenigstens einige Nervenpunkte bezeichnen. Vielfach hat man - etwa in Amerika - den autoritätsgläubigen deutschen Geist für den Nationalsozialismus und auch für Auschwitz verantwortlich gemacht. Ich halte diese Erklärung für zu oberflächlich, obwohl bei uns, wie in vielen anderen Ländern, autoritäre Verhaltensweisen und blinde Autorität viel zäher überdauern, als man es unter Bedingungen formaler Demokratie gern Wort hat. Eher ist anzunehmen, daß der Faschismus und das Entsetzen, das er bereitete, damit zusammenhängen, daß die alten, etablierten Autoritäten des Kaiserreichs zerfallen, gestürzt waren, nicht aber die Menschen psychologisch schon bereit, sich selbst zu bestimmen. Sie zeigten der Freiheit, die ihnen in den Schoss fiel, nicht sich gewachsen. Darum haben dann die Autoritätsstrukturen jene destruktive und - wenn ich so sagen darf - irre Dimension angenommen, die sie vorher nicht hatten, jedenfalls nicht offenbarten. Denkt man daran, wie Besuche irgendwelcher Potentaten, die politisch gar keine reale Funktion mehr haben, zu ekstatischen Ausbrüchen ganzer Bevölkerungen führen, so ist der Verdacht wohl begründet, daß das autoritäre Potential nach wie vor weit stärker ist, als man denken sollte. Ich möchte aber nachdrücklich betonen, daß die Wiederkehr oder Nichtwiederkehr des Faschismus im entscheidenden keine psychologische, sondern eine gesellschaftliche Frage ist. Vom Psychologischen rede ich nur deshalb soviel, weil die anderen, wesentlicheren Momente dem Willen gerade der Erziehung weitgehend entrückt sind, wenn nicht dem Eingriff des Einzelnen überhaupt.
Vielfach wird von Wohlmeinenden, die nicht möchten, daß es noch einmal so komme, der Begriff der Bindung zitiert. Daß die
Menschen keine Bindung mehr hätten, sei verantwortlich für das, was da vorging. Tatsächlich hängt der Autoritätsverlust, eine der Bedingungen des sadistisch-autoritären Grauens, damit zusammen. Für den gesunden Menschenverstand ist es plausibel, Bindungen anzurufen, die dem Sadistischen, Destruktiven, Zerstörerischen Einhalt tun durch ein nachdrückliches "Du sollst nicht". Trotzdem halte ich es für eine Illusion, daß die Berufung auf Bindung oder gar die Forderung, man solle wieder Bindungen eingehen, damit es besser
in der Welt und in den Menschen ausschaue, im Ernst frommt. Die Unwahrheit von Bindungen, die man fordert, nur damit sie irgend
etwas - und sei es auch Gutes - bewirken, ohne daß sie in sich selbst von den Menschen noch als substantiell erfahren werden, wird sehr rasch gefühlt. Erstaunlich, wie prompt selbst die törichtesten und naivsten Menschen reagieren, wenn es ums Aufspüren von Schwächen des Besseren geht. Leicht werden die sogenannten Bindungen entweder zum Gesinnungspass - man nimmt sie an, um sich als ein zuverlässiger Bürger auszuweisen - oder sie produzieren gehässige Rancune, psychologisch das Gegenteil dessen, wofür sie aufgeboten werden. Sie bedeuten Heteronomie, ein sich abhängig machen von Geboten, von Normen, die sich nicht vor der eigenen Vernunft des Individuums verantworten. Was die Psychologie Über-Ich nennt, das Wissen, wird im Namen von Bindung durch äussere, unverbindliche, auswechselbare Autoritäten ersetzt, so wie man es nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches auch in Deutschland recht deutlich hat beobachten können. Gerade die Bereitschaft, mit der Macht es zu halten und äusserlich dem, was stärker ist, als Norm sich zu beugen, ist aber die sinnesart der Quälgeister, die nicht mehr aufkommen soll. Deswegen ist die Empfehlung der Bindung so fatal Menschen, die sie mehr oder minder freiwillig annehmen, werden in eine Art von permanentem
Befehlsnotstand versetzt. Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.
Mich hat einmal eine Erfahrung sehr erschreckt: ich las auf einer Reise an den Bodensee eine badische Zeitung, in der über das Sartre-Stück "Tote ohne Begräbnis" berichtet wurde, das die furchtbarsten Dinge darstellt. Dem Kritiker war das Stück offensichtlich unbehaglich. Aber er hat dies Unbehagen nicht mit dem Grauen der Sache, die das Grauen unserer Welt ist, erklärt, sondern hat es so gedreht, daß wir gegenüber einer Haltung wie der Sartres, der damit sich abgebe, doch – ich möchte beinahe sagen - einen Sinn für etwas Höheres hätten: daß wir die Sinnlosigkeit des Grauens nicht anerkennen könnten. Kurz: der Kritiker wollte sich durch edles existentielles Gerede der Konfrontation mit dem Grauen entziehen. Nicht zuletzt darin liegt die Gefahr, daß es sich wiederhole, daß man es nicht an sich herankommen lässt und den, der auch nur davon spricht, von sich wegschiebt, als wäre er, wofern er es ungemildert tut, der Schuldige, nicht die Täter.
Beim Problem von Autorität und Barbarei drängt sich mir ein Aspekt auf, der im allgemeinen kaum beachtet wird. Auf ihn verweist eine Bemerkung in dem Buch "Der SS-Staat" von Eugen Kogon, das zentrale Einsichten zu dem gesamten Komplex enthält und das von der Wissenschaft und Pädagogik längst nicht so absorbiert wird, wie es absorbiert zu werden verdiente. Kogon sagt, die Quälgeister des Konzzentrationslagers, in dem er selbst Jahre verbracht hat, seien zum grössten Teil jüngere Bauernsöhne gewesen. Die immer noch fortdauernde kulturelle Differenz von Stadt und Land ist eine, wenn auch gewiss nicht die einzige und wichtigste, der Bedingungen des Grauens. Jeder Hochmut gegenüber der Landbevölkerung ist mir fern. Ich weiss, daß kein Mensch
etwas dafür kann, ob er ein Städter ist oder im Dorf gross wird. Ich registriere dabei nur, daß wahrscheinlich die Entbarbarisierung auf dem platten Land noch weniger als sonstwo gelungen ist. Auch das Fernsehen und die anderen Massenmedien haben wohl an dem Zustand des mit der Kultur nicht ganz Mitgekommenseins nicht allzuviel geändert. Mir scheint es richtiger, das auszusprechen und dem entgegenzuwirken, als sentimental irgendwelche besonderene Qualitäten des Landlebenss, die verlorenzugehen drohen, anzupreisen. Ich gehe so weit, die Entbarbarisierung des Landes für eines der wichtigsten Erziehungsziele zu halten. Sie setzt allerdings ein Studium des Bewusstseins und Unbewusstseins der Bevölkerung dort voraus. Vor allem auch wird man sich zu beschäftigen haben mit dem Aufprall der modernen Massenmedien auf einen Bewusstseinsstand, der den des bürgerlichen Kulturliberalismus des 19. Jahrhunderts längst noch nicht erreicht hat.
Um diesen zustand zu verändern, dürfte das normale, auf dem Land vielfach sehr problematische Volksschulsystem nicht ausreichen. Ich ddächte an eine Reihe von Möglichkeiten. Eine wäre - ich improvisiere -, daß Fernsehsendungen geplant werden unter Berücksichtigung von Nervenpunkten jenes spezifischen Bewusstseinszustands. Dann könnte ich mir vorstellen, daß etwas wie mobile Erziehungsgruppen und - kolonnen von Freiwilligen gebildet werden, daß sie aufs Land fahren und in Diskussionen, Kursen und zusätzlichem Unterricht versuchen, die bedrohlichsten Lücken auszufüllen. Ich verkenne dabei freilich nicht, daß solche Menschen sich schwerlich sehr beliebt machen werden. Aber es wird dann doch ein kleiner Kreis um sie sich bilden, der anspricht, und von dort könnte es vielleicht ausstrahlen.
Kein Missverständnis allerdings sollte darüber aufkommen, daß die archaische Neigung zur Gewalt auch in städtischen Zentren, gerade in den grossen, sich findet. Regressionstendsenzen - will sagen, Menschen mit verdrückt sadistischen Zügen - werden von der gesellschaftlichen Gesamttendenz heute überall hervorgebracht. Dabei möchte ich an das verqüre und pathogene Verhältnis zum Körper erinnern, das Horkheimer und ich in der "Dialektik der Aufklärung" dargestellt haben. Überall dort, wo Bewusstsein verstümmelt ist, wird es in unfreier, zur Gewaltttat neigender Gestalt auf den Körper und die Sphäre des Körperlichen zurückgeworfen. Man muss nur bei einem bestimmten Typus von Ungebildeten einmal darauf achten, wie bereits ihre Sprache - vor allem, wenn irgend etwas ausgesetzt oder beanstandet wird - ins Drohende übergeht, als wären die Sprachgesten solche von kaum kontrollierter körperlicher Gewalt. Hier müsste man wohl auch die Rolle des Sports studieren, die von einer kritischen Ssozialpsychologie wohl noch kaum zureichend erkannt wurde. Der Sport ist doppeldeutig: auf der einen Seite kann er antibarbarisch und antisadistisch wirken durch fair play, Ritterlichkeit, Rücksicht auf den Schwächeren. Andererseits kann er in manchen seiner Arten und vor allem in Personen, die nicht selbst der Anstrengung und Disziplin des Sports sich aussetzen, sondern bloss zusehen; in jenen, die auf dem Sportfeld zu brüllen pflegen. Solche Doppeldeutigkeit wäre systematisch zu analysieren. Soweit Erziehung darauf Einfluss hat, wären die Ergebnisse aufs Sportleben anzuwenden.
All das hängt mehr oder weniger mit der alten
autoritätsgebundenen Struktur zusammen, mit Verhaltensweisen -
ich hätte beinah gesagt - des guten alten autoritären
Charakters. Was aber Auschwitz hervorbringt, die für die Welt
von Auschwitz charakteristischen Typen, sind vermutlich ein
Neüs. Sie bezeichnen auf der einen Seite die blinde
Identifikation mit dem Kollektiv. Auf der anderen sind sie
danach zugeschnitten, Massen, Kollektive zu manipulieren, so
wie die Himmler, Höss, Eichmann. Für das Allerwichtzigste
gegenüber der Gefahr einer Wiederholung halte ich, der
blindenVormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten, den
Widerstand gegen sie ddadurch zu steigern, daß man das Problem
der Kollektivierung ins Licht rückt. Das ist nicht so
abstrakt, wie es angesichts der Leidenschaft gerade junger, dem
Bewusstsein nach progressiver Menschen, sich in irgend etwas
einzugliedern, klingt. Anknüpfen liesse sich an das Leiden,
dasw die Kollektive zunächst allen Individün, die in sie
aufgenommen werden, zufügen. Man braucht nur an die eigenen
ersten Erfahrungen in der Schule zu denken. Anzugehen wäre
gegen jene Art folk-ways, Volkssitten, Initiationsriten
jeglicher Gestalt, die einem Menschen physischen Schmerz - oft
bis zum Unerträglichen - antun als Preis dafür, daß er sich
als Dazugehöriger, als einer des Kollektivs fühlen darf. Das
Böse von Gebräuchen wie die Rauhnächte und das
Haberfeldtreiben und wie derlei beliebte bodenständige Sitten
sonst heissen mögen, ist eine unmittelbare Vorform der
nationalsozialistischen Gewalttat. Kein Zufall, daß die Nazis
solche Scheusslichkeiten unter dem Namen "Brauchtum"
verherrlicht und gepflegt haben. Die Wissenschaft hätte hier
eine höchst aktülle Aufgabe. Sie könnte die Tendenz der
Volkskunde, die von den Nationalsozialisten begeistert
beschlagnahmt wurde, energisch umwenden, um dem zugleich
brutalen und gespenstischen Überleben dieser Volksfreuden zu
steürn.
In dieser gesamten Sphäre geht es um ein vorgebliches Ideal, das in
der traditionellen Erziehung auch sonst eine erhebliche Rolle spielt,
das der Härte. Es kann auch noch, schmachvoll genug, auf einen
Ausspruch von Nietzsche sich berufen, obwohl er wahrhaft etwas anderes
Fortsetzung ...
Empfänger : /de/soc/politik/texte
Absender : K.Fischer@odessa.bonbit.org (Kai Fischer)
Betreff : Erziehung nach Auschwitz 2/2
Datum : Di 25.05.99, 21:14 (erhalten: 27.05.99)
Grösse : 20123 Bytes
----------------------------------------------------------------------
Theodor W. Adorno
ERZIEHUNG NACH AUSCHWITZ
2/2
meinte. Ich erinnere daran, daß der fürchterliche Boger während der
Auschwitz-Verhandlung einen Ausbruch hatte, der gipfelte in einer
Lobrede auf Erziehung durch Disziplin durch Härte. Sie sei notwendig,
um den ihm richtig erscheinenden Typus vom Menschen hervorzubringen.
Dies Erziehungsbild der Härte, an das viele glauben mögen, ohne
darüber nachzudenken, ist durch und durch verkehrt. Die Vorstellung,
Männlichkeit bestehe in einem Höchstmass an Ertragenkönnen, wurde
längst zum Deckbild eines Masochismus, der - wie die Psychologie
dartat - mit dem Sadismus nur allzu leicht sich zusammenfindet. Das
gepriesene Hart-Sein, zu dem da erzogen werden soll, bedeutet
Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin. Dabei wird zwischen
dem eigenen und dem anderer nicht einmal so sehr fest unterschieden.
Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen
andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er
nicht zeigen durfte, die er verdrängen musste. Dieser Mechanismus ist
ebenso bewusst zu machen wie eine Erziehung zu fördern, die nicht,
wie früher, auch noch Prämien auf den Schmerz setzt und aufdie
Fähigkeit Schmerzen auszuhalten. Mit anderen Worten: Erziehung
müsste Ernst machen mitt einem Gedanken, der der Philosophie
keineswegs fremd ist: daß man die Angst nicht verdrängen soll. Wenn
Angst nicht verdrängt wird, wenn man sich gestattet, real so viel
Angst zu haben, wie diese Realität Angst verdient, dann wird gerade
dadurch doch manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewussten
und verschobenen Angst vershwinden.
Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selber
schon zu etwas wie Material, löschen sich als selbstbestimmte Wesen
aus. Dazu passt die Bereitschaft, andere als amorphe Masse zu
behandeln. Ich habe die, welche sich so verhalten, in der
"Authoritarian Personality" den manipulativen Charakter genannt, und
zwar zu einer Zeit, als das Tagebuch von Höss oder die Aufzeichnungen
von Eichmann noch gar nicht bekannt waren. Meine Beschreibungen des
manipulativen Charakters datieren auf die letzten Jahre des 2.
Weltkrieges zurück. Manchmal vermögen Sozialpsychologie und
Soziologie Begriffe zu konstruieren, die erst später ganz sich
bewahrheiten. Der manipulative Charakter - jeder kann das aus den
Qüllen kontrollieren, die über jene Naziführer zur Verfügung
stehen - zeichnet sich aus durch Organisationswut, durch Unfähigkeit,
überhaupt unmittelbare menschliche Erfahrungen zu machen, durch eine
gewisse Art von Emotionslosigkeit, durch überwertigen Realismus. er
will um jeden Preis angebliche, wenn auch wahnhafte Realpolitik
betreiben. Er denkt oder wünscht nicht eine Sekunde lang die welt
anders, als sie ist, besessen vom Willen of doing things, Dinge zu
tun, gleichgültig gegen den Inhalt solchen Tuns. Er macht aus der
Tätigkeit, der Aktivität, der sogenannten efficiency als solcher
einen Kultus, der in der Reklame für den aktiven Menschen anklingt.
Dieser Typ ist unterdessen - wenn meine Beobachtungen mich nicht
trügen und manche soziologische Untersuchungen Verallgemeinerung
gestatten - viel weiter verbreitet als man denken könnte. Was damals
nur eininge Nazimonstren exemplifizierten, wird man heute feststellen
können an sehr zahlreichen Menschen, etwa jugendlichen Verbrechern,
Bandenführern und ähnlichen, von denen man jeden Tag in der Zeitung
liest. Hätte ich diesen Typus des manipulativen Charakters auf eine
Formel zu bringen - vielleicht soll man es nicht, aber zur
Verständigung mag es doch gut sein -, so würde ich ihn den Typus des
verdinglichten Bewusstseins nennen. Erst haben die Menschen, die so
geartet sind, sich selber gewissermassen den Dingen gleichgemacht.
Dann machen sie, wenn es ihnen möglich ist, die anderen den Dingen
gleich. Der Ausdruck "fertigmachen", ebenso populär in der Welt
jjugendlicher Rowdies wie in der der Nazis, drückt das sehr genau
aus. Menschen definiert dieser Ausdruck "fertigmachen" als im
doppelten Sinn zugerichtete Dinge. Die Folter ist nach der Einsicht
von Max Horkheimer die in Regie genommene und gewissermasssen
beschleunigte Anpassung des Menschen an die Kollektive. Etwas davon
liegt im Geist der Zeit, sowenig es auch mi Geist zu tun hat. Ich
zitiere bloss das vor dem letzten Krieg gesprochene Wort von Paul
Valéry, die Unmenschlichkeit habe eine grosse Zukunft. Besonders
schwer ist es, dagegen anzugehen, weil jene manipulativen Menschen,
die zu erfahrungen eigentlich nicht fähig sind, eben deshalb Züge
von Unansprechbarkeit aufweisen, die sie mit gewissen Geisteskranken
und psychotischen Charakteren, den Schizoiden verbinden.
Bei Versuchen, der Wiederholung von Auschwitz entgegenzuwirken,
schiene es mir wesentlich, zunächst Klarheit darüber zu schaffen,
wie der manipulative Charakter zustande kommt, um dann durch
Veränderung der Bedingungen sein Entstehen, so gut es geht, zu
verhindern. Ich möchte einen konkreten Vorschlag machen: die
Schuldigen von Auschwitz mit allen der Wissenschaft zur Verfügung
stehenden Methoden, insbesondere mit langjährigen Psychoanalysen, zu
studieren, um möglicherweise herauszubringen, wie ein Mensch so wird.
Das, was jene an Gutem irgend noch tun können, ist, wenn sie selbst,
in Widerspruch zu ihrer eigenen Charakterstruktur, etwas dazu helfen,
daß es nicht noch einmal dazu komme. Das würde nur dann geschehen,
wenn sie mitarbeiten wollten bei der Erforschung ihrer
Genese.Allerdings dürfte es schwierig sein, sie zum Reden zu bringen;
um keinen Preis dürfte irgend etwas ihren eigenen Methoden Verwandtes
angewendet werden, um zu lernen, wie sie so wurden. Einstweilen
jedenfalls fühlen sie - eben in ihrem Kollektiv, im Gefühl, daß sie
allesamt alte Nazis sind - sich so geborgen, daß kaum einer auch nur
Schuldgefühle gezeigt hat. Aber vermutlich existieren auch in ihnen,
oder wenigstens in manchen, psychologische Anknüpfungspunkte, durch
die sich das ändern könnte, etwa ihr Narzissmus, schlicht gesagt
ihre Eitelkeit. Sie mögen sich wichtig orkommen, wenn sie hemmungslos
von sich sprechen können, so wie Eichmann, der ja offenbar ganze
Bibliotheken von Bändern einsprach. Schliesslich ist anzunehmen, daß
auch in diesen Personen, wenn man tief genug gräbt, Restbestände der
alten, hheute vielfach in Auflösung befindlichen Gewissensinstanz
vorhanden sind. Kennt man aber einmal die inneren und äusseren
Bedingungen, die sie so machten - wenn ich hypothetisch unterstellen
darf, daß man es tatsächlich herausbringen kann -, dann lassen sich
möglicherweise doch praktische Folgerungen ziehen, daß es nicht noch
einmal so werde. Ob der Versuch etwas hilft oder nicht, wird sich erst
zeigen, wenn er unternommen ward; ich möchte ihn nicht
überschätzen. Man muss sich vergegenwärtigen, daß aus derlei
Bedingungen Menschen nicht automatisch erklärt werden können. Unter
gleichen Bedingungen wurden manche so und manche ganz anders. Trotzdem
wäre es der Mühe wert. Ein aufklärendes Potential dürfte allein
schon in der Fragestellung liegen, wie man so wurde. Denn es gehört
zu dem unheilvollen Bewusstseins- und Unbewusstseinszustand, daß man
sein So-Sein - daß man so und nicht anders ist - fälschlich für
Natur, für ein unabänderlich Gegebenes hält und nicht für ein
Gewordenes. Ich nannte den Begriff des verdinglichten Bewusstseins.
Das ist aber vor allem eines, das gegen alles Geworden-Sein, gegen
alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so
ist, absolut setzt. Würde dieser Zwangsmechanismus einmal
durchbrochen, wäre - so dächte ich - doch einiges gewonnen.
Weiter sollte man im Zusammenhang mit dem verdinglichten Bewusstsein
auch das Verhältnis zur Technik genau betrachten, und zwar keineswegs
nur bei kleinen Gruppen. Es ist so doppeldeutig wie das zum Sport, mit
dem es im übrigen verwandt ist. Einerseits produziert jede Epoche
diejenigen Charaktere - Typen der Verteilung von psychischer Energie -
, die sie gesellschaftlich braucht. Eine Welt, in der die Technik eine
solche Schlüsselposition hat wie heute, bringt technologische, auf
Technik eingestimmte Menschen hervor. Das hat seine gute
Rationalität: in ihrem engeren Bereich werden sie weniger sich
vormachen lassen, und das kann auch ins Allgemeinere hinaus wirken.
Andererseits steckt im gegenwärtigen Verhältnis zur Technik etwas
Übertriebenes, Irrationales, Pathogenes. Das hängt zusammen mit dem
"technologischen Schleier". Die Menschen sind geneigt, die Technik
für die Sache selbst, für Selbstzweck, für eine Kraft eigenen
Wesens zu halten und darüber zu vergessen, daß sie der verlängerte
Arm der Menschen ist. Die Mittel - und Technik ist ein Inbegriff von
Mitteln zur Selbsterhaltung der Gattung Mensch - werden fetischisiert,
weil die Zwecke - ein menschenwürdiges Leben - verdeckt und vom
Bewusstsein der Menschen abgeschnitten sind. Solange man das so
allgemein sagt, wie ich es eben formulierte, dürfte es einleuchten.
Aber eine solche Hypothese ist noch viel zu abstrakt. Keineswegs weiss
man bestimmt, wie die Fetischisierung der Technik in der individüllen
Psychologie des einzelnen Menschen sich durchsetzt, wo die Schwelle
ist zwischen einem rationalen Verhältnis zu ihr und jener
Überwertung, die schliesslich dazu führt, daß einer, der ein
zugsystem ausklügelt, das die Opfer möglichst schnell und
reibungslos nach Auschwitz bringt, darüber vergisst, was in Auschwitz
mit ihnen geschieht. Bei ddem Typus, der zur Fetischisierung der
Technik neigt, handelt es sich, schlicht gesagt, um Menschen, die
nicht lieben können. Das ist nicht sentimental und nicht
moralisierend gemeint, sondern bezeichnet die mangelnde libidinöse
Beziehung zu anderen Personen. Sie sind durch und durch kalt, müssen
auch zuinnerst die Möglichkeit von Liebe negieren, ihre Liebe von
anderen Menschen vo vornherein, ehe sie sich nur entfaltet, abziehen.
Was an Liebesfähigkeit in ihnen irgend überlebt, müssen sie an
Mittel verwenden. Die vorurteilsvollen, autoritätsgebundenen
Charaktere, mit denen wir es in der "Autoritarian Personality" in
Berkeley zu tun hatten, lieferten manche Belege dafür. Eine
Versruchsperson - das Wort ist selber schon ein Wort aus dem
verdinglichten Bewusstsein - sagte von sich: "I like nice equipment"
(Ich hhabe hübsche Ausstattungen, hübsche Armaturen gern.), ganz
gleichgültig, welche Apparaturen das sind. Seine Liebe wurde von
Dingen, Maschinen als solchen absorbiert. Das Bestürzende ist dabei -
bestürzend, weil es so hoffnungslos erscheinen lässt, dagegen
anzugehen -, daß dieser Trend mit dem der gesamten Zivilisation
verkoppelt ist. Ihn bekämpfen heisst soviel wie gegen den Weltgeist
sein; aber damit wiederhole ich nur etwas, was ich zu Eingang als den
düstersten Aspekt einer Erziehung gegen Auschwitz vvorwegnahm.
Ich sagte, jene Menschen seien in einer besonderen Weise kalt. Wohl
sind ein paar Worte über Kälte überhaupt erlaubt. Wäre sie nicht
ein Ggrundzug der Anthropologie, also der Beschaffenheit der Menschen,
wie sie in unserer Gesellschaft tatsächlich sind; wären sie also
nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit allen anderen
geschieht ausser den paar, mit denen sie eng und womöglich durch
handgreifliche Interessen verbunden sind, so wäre Auschwitz nicht
möglich gewesen, die Menschen hätten es dann nicht hingenommen. Die
Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt - und wohl seit
Jahrtausenden - beruht nicht, wie seit Aristoteles ideologisch
unterstellt wurde, auf Anziehung, auf Attraktion, sondern auf der
Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller
anderen. Das hat im Charakter der Menschen bis in ihr Innerstes hinein
sich niedergeschlagen. Was dem widerspricht, der Herdentrieb der
sogenannten lonely crowd, der einsamen Menge, ist eine Reaktion
darauf, ein Sich-Zusammenrotten von Erkalteten, die die eigene Kälte
nicht ertragen, aber auch nicht sie ändern können. Jeder Mensch
heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zuwenig geliebt, weil jeder
zuwenig lieben kann. Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die
wichtigste psyychologische Bedingung dafür, daß so etwas wie
Auschwitz sich inmitten von einigermassen gesitteten und harmlosenh
Menschen hat abspielen können. Was man so "Mitläufertum" nennt, war
primär Geschäftsinteresse: daß man seinen eifgenen Vorteil vor
allem anderen und, um nur ja nicht sich zu gefährden, sich nicht den
Mund verbrennt. Das ist ein allgemeines Gesetz des Bestehenden. Das
Schweigen unter dem Terror war nur dessen Konseqünz. Die Kälte der
gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als
Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür,
daß nur ganz wenige sich regten. Das wissen die Folterknechte; auch
darauf machen sie stets erneut die Probe.
Verstehen sie mich nicht falsch. Ich möchte nicht die Liebe predigen.
Sie zu predigen, halte ich für vergeblich: keiner hätte auch nur das
Recht, sie zu predigen, weil der Mangel an Liebe - ich sagte es schon
- ein Mangel aller Menschen ist ohne Ausnahme, so wie sie heute
existieren. Liebe predigen, setzt in denen, an die man sich wendet,
bereits eine andere Charakterstruktur voraus als die, welche man
verändern will. Denn die Menschen, die man lieben soll, sind ja
selber so, daß sie nicht lieben können, und darum ihrerseits
keineswegs so liebenswert. Es war einre der grossen, mit dem Dog,a
nicht unmittelbar identischen Impulse des Christentums, die alles
durchdringende Kälte zu tilgen. Aber dieser Versuch scheiterte; wohl
darum, weil er nicht an die gesellschaftliche Ordnung rührte, welche
die Kälte produziert und reproduziert. Wahrscheinlich ist jene Wärme
unter den Menschen, nach der alle sich sehnen, ausser in kurzen
Perioden und ganz kleinen Gruppen, mag sein auch unter manchen
friedlichen wilden, bis heute überhaupt noch nicht gewesen. Die
vielgeschmähten Utopisten haben das gesehen. So hat Charles Fourier
die Attraktion als ein durch menschenwürdige gesellschaftliche
Ordnung erst herzustellendes bestimmt; auch erkannt, daß dieser
Zustand nur möglich sei, wenn die Triebe der Menschen nicht länger
unterdrückt sind, sondern erfüllt und freigegeben. Wenn irgend etwas
helfen kann gegen Kälte als Bedingung des Unheils, dann die Einsicht
in ihre eigenen Bedingungen und der Versuch, vorwehnehmend im
individüllen Bereich diesen ihren Bedingungen entgegenzuarbeiten. Man
möchtemeinen, je weniger in der Kindheit versagt wird, je besser
Kinder behandelt werden, umso mehr Chance sei. Aber auch hier drohen
Illusionen. Kinder, die garnichts von der Grausamkeit und Härte des
Lebens ahnen, sind, einmal aus dem Geschützten entlassen, erst recht
der Barbarei ausgesetzt. Vor allem aber kann man Eltern, die selber
Produkte dieser Gesellschaft sind und ihre Male tragen, zur wärme
nicht animieren. Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben,
dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch. Überdies
lässt sich in beruflich vermittelten Verhältnissen wie dem von
Lehrer und Schüler, von Arzt und Patient, von Anwalt und Klient Liebe
nicht fordern. Sie ist ein Unmittelbares und widerspricht wesentlich
vermittelten Beziehungen. Der zuspruch zur Liebe - womöglich inder
imperativischen Form, daß man es soll - ist selber Bestandstück der
Ideologie, welche die Kälte verewigt. ihm eignet das Zwanghafte,
Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt. Das erste
wäre darum, der Kälte zum Bewusstsein ihrer selbst zu verhelfen, der
Gründe, warum sie wurde.
Lassen sie mich zum Ende nur noch mit wenigen Worten eingehen auf
einige Möglichkeiten der Bewusstmachung der subjektiven Mechanismen
überhaupt, ohne die Auschwitz kaum wäre. Kenntnis dieser Mechanismen
ist not; ebenso auch die der stereotypen Abwehr, die ein solches
Bewusstsein blockiert. Wer heute noch sagt, es sei nicht so oder nicht
ganz so schlimm gewesen, der verteidigt bereits, was geschah, und
wäre fraglos bereit zuzusehen oder mitzutun, wenn es wieder
geschieht. Wenn rationale Aufklärung auch - wie die Psychologie genau
weiss - nicht gerade die unbewussten Mechanismen auflöst, so
kräftigt sie wenigstens im Vorbewusstsein gewisse Gegeninstanzen und
hilft ein klima bereiten, das dem Äussersten ungünstig ist. Würde
wirklich das gesamte kulturelle Bewusstsein durchdrungen von der
Ahnung des pathogenen Charakters der Züge, die in Auschwitz zu dem
Ihren kamen, so würden die Menschen jene zzüge vielleicht besser
kontrollieren.
Weiter wäre aufzuklären über die Möglichkeit der Verschiebung
dessen, was in Auschwitz sich austobte. Morgen kann eine andere Gruppe
drankommen als die juden, etwa die alten, die ja im 3.Reich gerade
eben noch verschont wurden, oder die Intellektüllen, oder einfach
abweichende Gruppen. Das Klima - ich deutete darauf hin -, das am
meisten solche Auferstehung fördert, ist der wiedererwachende
Nationalismus. er ist deshalb so böse, weil er im Zeitalter der
internationalen Kommunikation und der übernationalen blöcke sich
selbst gar nicht mehr so recht glauben kann und sich ins Masslose
übertreiben muss, um sich und anderen einzureden, er wäre noch
substantiell.
Konkrete Möglichkeiten des Widerstands wären immerhin zu zzeigen. Es
wäre etwa auf die Geschichte der Euthanasiemorde einzugehen, die in
Deutschland, dank des Widerstands dagegen, doch nicht in dem ganzen
Umfang begangen wurden, in dem die Nationalsozialisten sie geplant
hatten. Der Widerstand war auf die eigene Gruppe berschränkt; gerade
das ist ein besonders auffälliges, weitverbreitetes Symptom der
universalen Kälte. Sie ist aber, zu allem anderen, auch borniert
angesichts der Unersättlichkeit, die im Prinzip der Verfolgungen
liegt. Schlechterdings jeder Mensch, der nicht gerade zu der
verfolgenden Gruppe dazugehört, kann ereilt werden; es gibt also ein
drastisches egoistisches Interesse, an das sich appellieren liesse. -
schliesslich müsste man nach den spezifischen, geschichtlich
objektiven bedingungen der Verfolgungen fragen. sogenannte nationale
Erneürungsbewegungen in einem Zzeitalter, in dem der Nationalismus
veraltet ist, sind offenbar besonders anfällig für sadistische
Praktiken.
Aller politische Unterricht endlich sollte zzentriert sein darin, daß
Auschwitz nicht sich wiederhole. Das wäre möglich nur, wenn zumal er
ohne Angst, bei irgendwelchen Mächten anzustossen, offen mit diesem
Allerwichtigsten sich beschäftigt. Dazu müsste er in Soziologie sich
verwandeln, also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren,
das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat.
Kritisch zu behandeln wäre, um nur ein Modell zu geben, ein so
respektabler Begriff wie der der Staatsraison: indem man das Recht des
Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Graün
potentiell schon gesetzt.
Walter Benjamin fragte mich einmal in Paris wwährend der Emigration,
als ich noch sporadisch nach Deutschland zurückkehrte, ob es denn
dort noch genug Folterknechte gäbe, die das von den Nazis Befohlene
ausführten. Es gab sie. Trotzdem hat die Frage ihr tiefes Recht.
Benjamin spürte, daß die Menschen, die es tun, im Gegensatz zu den
Schreibtischmördern und Ideologen, in widerspruch zu ihren eigenen
unmittelbaren Interessen handeln, Mörder an sich selbst, indem sie
die anderen ermorden. Ich fürchte, durch Massnahmen auch einer noch
so weit gespannten Erziehung wird es sich kaum verhindern lassen, daß
Schreibtischmörder nachwachsen. Aber daß es Menschen gibt, die
unten, eben als Knechte das tun, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft
verewigen und sich selbst entwürdigen; daß es weiter Bogers und
Kaduks gebe, dagegen lässt sich doch durch Erziehung und Aufklärung
ein Weniges unternehmen.