Autoritärer Staat und Verfall des Gebrauchswerts

Das endlose Ende der politischen Ökonomie

Hat der historische Faschismus die Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Vergesellschaftung zugunsten des "Primats der Politik" abgeschafft oder ist unter der Hülle einer repressiv-autoritären Staatsform der Kapitalismus mit all seinen Attributen derselbe geblieben? So lautete einmal eine unter Marxisten gern gestellte Frage, die regelmäßig einen Streit eröffnete, der vielleicht die Umsätze der papierverarbeitenden Industrie ankurbelte und mit dem in jenen verflossenen Zeiten manch eine Planstelle sich ergattern ließ, der aber ansonsten so entsetzlich langweilig und außerordentlich fruchtlos war wie nur der Streit um die Henne und das Ei. (1) Der Grund dafür ist relativ simpel: beide Seiten operieren - wie das Wort "Primat" ja schon bezeugt - mit einer Eigentlichkeitsmetaphysik, in der die bürgerliche Vergesellschaftung jeweils in eine Realität ersten und zweiten Grades aufgespalten wird, in der die zweite folglich stets nur als "Ableitung" aus bzw. Appendix der ersten erscheint. Von Temperament, Vorlieben, Tradition, kurz: vom Zufall hängt dann ab, was als unumstößliche, wesenhafte, historischer Veränderung nicht unterworfene Realität angesehen wird, welcher Realität der "Primat" zuerkannt werden soll, der Ökonomie oder der Politik.

Daß dieser Streit im ganzen gesehen eine autistisch in sich kreisende und deshalb recht sinnverlassene Angelegenheit war, impliziert freilich mitnichten eine distanziert-neutral über den Kontrahenten sich erhebende Stellung dazu. Die Vertreter noch der krudesten Thesen vom "Primat der Politik" behalten negativ, d.h. gegen jene hartnäckigen, durch keine geschichtlichen Katastrophen in ihrem Glauben an welche Grundwidersprüche auch immer zu erschütternden Marxisten, in einer Hinsicht stets recht: indem sie immerhin eine Ahnung davon entwickeln, daß sich das Kapitalverhältnis im Laufe seiner Geschichte sich nicht nur in seinen Erscheinungsformen, sondern bis in seine basalen Bestimmungen hinein qualitiativ verändert haben könnte.

Mit einigem Recht aber können die Verfechter des "Primats der Ökonomie" darauf verweisen, daß das Kapital sich im Laufe seiner Existenz erstaunlich gleichgeblieben ist. Was seine Abläufe und Funktionsmechanismen betrifft, so lassen sich diese sogar adäquater denn je mit Marxsehen Termini beschreiben - noch nie sei es so wertvoll wie heute, so lautete das Urteil anläßlich des 150-jährigen Jubiläums des Kommunistischen Manifests. Das Vertrackte daran ist nur, daß die vollständige Adäquanz ihrem Gegenstand gegenüber die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie im selben Maße bewahrheitet, wie es sie außer Kurs setzt: als Revolutionstheorie nämlich. Sämtliche Aussagen der Kritik der politischen Ökonomie beziehen sich auf den Kapitalismus als Krisenzusammenhang, auf ein versachlichtes, verselbständigtes gesellschaftliches Verhältnis, das freilich defizitär und lückenhaft bleibt. Das entscheidende Bestimungsmoment der kapitalistischen Binnengeschichte ist nicht das Verhältnis des Kapitals zu den Überresten vorkapitalistischer Vergesellschaftungsformen, die es sich anverwandelt und schließlich auflöst, sondern die Art und Weise,wie es seinen inneren Widerspruch als einen, der Über sich hinaustreibt, es also zu sprengen droht, sistiert und als Momentseiner Selbsterhaltung setzt. Nur solange das Kapitalverhältnisnicht rein mit sich identisch, sondern Identität von Identität und Nicht-Identität ist, ist es auch substantiell widersprüchlich.

Das Kapitalverhältnis als Krisenzusammenhang

Wie bekannt (2), ist im werdenden Kapitalverhältnis der Gebrauchswert keine bloß abstrakte Voraussetzung der Ökonomie mehr - ungeformter bzw. nach anderen gesellschaftlichen Maßstäben geformter stofflicher Inhalt - sondern selbst eine ökonomische Formbestimmung, die in den Kreis der politischen Ökonomie fällt. Gebrauchswert sind nicht mehr nur die einfachen nützlichen Dinge, sondern ist die vom Kapital gesetzte lebendige Arbeit, die zum ersten Mal in der Geschichte befähigt wird, universellen Reichtum zu produzieren - als Mannigfaltigkeit der materiellen Produkte wie der subjektiven Bedürfnisse. Kapital - der aus der Zirkulation kommende, sich in ihr erhaltende und vervielfältigende Tauschwert - und Gebrauchswert verhalten sich zwar wie Form und Inhalt zueinander, aber eben nicht wie kapitalistische Form und vorkapitalistischer Inhalt, nicht als unmittelbarer Gegensatz. Es sind Momente ein und desselben Verhältnisses, aber in sich nichtidentisch, Einheit des Verschiedenen, worin jeder Pol unmittelbar sein Gegenteil enthält: so sind sie bestimmt als substantielle Form bzw. geformter Inhalt. (3) Derart ist die Verwertung des Werts substantiell bestimmt als Erhaltung und Vervielfältigung von Gebrauchswerten, gerade dadurch, daß der Gebrauchwert nicht das Ziel der Produktion ist, sondern von ihm abstrahiert wird: "Durch Abstraktion sind Wert und Gebrauchswert nicht nur voneinander geschieden, sondern ebenso aufeinander bezogen. Der Widerspruch zwischen der Beliebigkeit des besonderen Gebrauchswerts und der Notwendigkeit, daß es sich doch unbedingt um einen solchen handeln muß, erscheint im Begriff der notwendigen Arbeit als einer Bestimmung, die zwingend und unbekannt zugleich ist." (4) Das Kapital wie die es produzierende Arbeit ist darin gleichermaßen Abstraktion von den besonderen Existenzweisen des Reichtums wie die Totalität des Reichtums.(5) Das Maß-, End- und Ziellose, das die Kapitalverwertung immer schon an sich trägt, ist hier qualitativ bestimmt: als erfahrbarer und erfahrener Gegensatz zum stumpfen Vegetieren, von-der-Hand-inden-Mund-leben, zum kümmerlichen Reichtum vorkapitalistischer Epochen. Indem das Kapital die Mehrarbeit als Bedingung der notwendigen Arbeit setzt, durch fortwährende Umwälzung des Produktionsprozesses jene auf Kosten dieser beständig zu vergrößern bestrebt ist, enthält es die Abschaffung der Arbeit, die Befreiung von Not und Schufterei bereits in sich. - Freilich entwickelt es diese seine substantiellen Bestimmungen nur in widersprüchlicher, gegensätzlicher Form, und das ist der materialistische Einsatzpunkt von Marx. Das, wovon das Kapital abstrahiert, was es als seine konstitutive Voraussetzung mißachtet, macht sich dennoch geltend, und zwar dem Charakter negativer VergeselIschaftung gemäß, hinterrücks, als Krise und Klassenkampf.

1) Als Verwertungsprozeß produziert das Kapital zwar allgemeinen Reichtum, der sich aber, will er sich als Wert realisieren, in der Zirkulation doch als besonderer Gebrauchswert bewähren muß, für das freilich kein unendliches Bedürfnis besteht. Ursache kapitalistischer Krisen ist natürlich nicht die mangelnde Kaufkraft der subalternen Klassen, die sogenannte "Unterkonsumtion" - dies ist vielmehr eine der basalen Annahmen des Keynesianismus, dem in Ermangelung eines synthetischen Begriffs des Kapitals das Geld als ein der Produktion äußerliches Vehikel zur Vermittlung von Bedürfnis und Produkt gilt und der demzufolge die Knappheit an Geld als Krisenursache identifizieren muß. Die Konsumtion erweist sich als Schranke der Verwertung vielmehr in jenem präzisen Sinne, daß erst im Zirkulationsprozeß des Kapitals der fundamentale Widerspruch des Kapitals als Produktionsverhältnis zur Erscheinung kommt. Der Widerspruch von Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß, von Tauschwert und Gebrauchswert, der das Kapital als Produktionsverhältnis auszeichnet, ist im unmittelbaren Produktionsprozeß erloschen, (6) Ob in der Produktion "gesellschaftlich notwendige" Arbeit verausgabt wurde oder nicht; ob das Produkt ein Gebrauchswert für andere oder Pofel ist - das entscheidet sich erst post festum, im letzten Abschnitt der Gesamtbewegung des Kapitals, also im Schritt W - G'. Krisenursache ist Überakkumulation und Überproduktion, der Widerspruch zwischen Wertrealisierung und Bedürfnisbefriedigung erweist sich als der substantielle und das System transzendierende Widerspruch. (7)

2) Das Kapital setzt den Arbeiter als freies Subjekt, das sich jedoch durch Verkauf seines einzigen Privateigentums, seiner Arbeitskraft, fortwährend zum Objekt des Kapitals machen muß, um die materiellen Voraussetzungen seiner Freiheit zu erwerben. Als lebendige, Wert erhaltende und vervielfältigende, Arbeit, als Gebrauchswert par excellence, ist er zwar Inbegriff der gesellschaftlichen Produktivität - aber gleichzeitig bleiben ihm gerade die produktiven, geschichtsbildenden Potenzen seiner Arbeit verschlossen. Als Inbegriff der politischen Ökonomie, kapitalbildende Arbeit, steht der Arbeiter gleichwohl exterritorial zu ihr. Akkumulation von Kapital ist identisch mit Akkumulation von Verelendung. Damit gräbt sich das Kapital aber über kurz oder lang seine Existenzgrundlage ab - sei's indem es die Arbeitskraft durch rücksichtlose Ausbeutung zugrunde richtet, sei's indem es massenhafte Auflehnung und damit die Gefahr eines Umsturzes provoziert. Im Arbeiter droht die Dialektik bürgerlicher Freiheit - Freiheit als Unterwerfung unter den "objektiven Zwangscharakter der gesellschaftlichen Reproduktion" (Agnoli), als unmittelbares Zusammenfallen von Freiheit und Zwang - über sich selbst hinauszutreiben.

3) Entgegen der liberalen Annahme muß der Staat fortwährend kompensatorisch tätig werden, er muß ausbügeln, was das Kapital, sich selbst überlassen, anrichtet; er muß ihm die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Existenz aufnötigen: "Der Staat nicht als permanent manifeste, sondern als abstrakte Präsenz derjederzeit zu manifestierenden Sanktionsgewalt ist notwendig, weil der Abstraktionsprozeß vom empirischen Subjekt, das Kapital als der sich in der Arbeitszeit entäußernde Wertbegriff nicht rein ist. Wie Erinnerung an den Gebrauchswert im Geld zwar ausgelöscht wird, es gleichwohl des Gebrauchswerts zum Tausch bedarf, so die Erinnerung an Ausbeutung durch Verinnerlichung ökonomischer Gewalt, die als zweite Natur doch in der Krise aufzuheben ist." (8) Seinem direkten Wortsinn nach ist der autoritäre Staat also nicht das unmittelbare Gegenteil des liberalen Staates, sondern ebendieser liberale Staat in seiner Vorderansicht (9): seiner Kompetenzbestimmung sowie der Beschaffenheit und Reichweite seines rechtlichen Instrumentariums gemäß ist er nur fähig, entweder unmittelbar repressiv tätig zu werden - indem Polizei und Armee gegen streikende Arbeiter losgelassen werden - oder im Falle bereits eingetretener Krisen entsprechendes Management zu betreiben. In jedem Falle ist der Staat auf nachträgliches, kompensatorisches Handeln beschränkt, also darauf, die Gesellschaft nachträglich zu überformen.

Kritik als Krisenwissenschaft

Krise und Klassenkampf zerreißen derart permanent den realen Schein kompakter Sachgesetzlichkeit und strafen so die rationalistischen Konstruktionen der politischen Ökonomie wie der Philosophie Lügen, wonach man es bei der bürgerlichen Gesellschaft mit einem in sich stabilen Zusammenhang zu tun habe, worin die widerstreitenden Einzelinteressen zum höheren Ganzen sich ausgleichen und forrnieren. Der Begriff der Krise ist damit ein entschieden revolutionstheoretischer Begriff, keiner, mit dem sich objektive Funktionsstörungen und Disparitäten objektiv angemessen beschreiben lassen. Daß Marx in seinen ökonomiekritischen Schriften die Möglichkeit der Krise entwickelt, ohne auf irgendein Subjekt der Aufhebung zu rekurrieren - eben weil reale kapitalistische Krisen in keinerlei Hinsicht von irgendwelchen gesellschaftlichen Antagonismen abhängen oder auf sie zurückzuführen sind -ist zwar richtig, aber kein triftiger Einwand. Es geht hier nämlich nicht um neutrale, ergebnisoffene Kausal- oder Wirkungszusammenhänge, sondern um die erkenntniskritische Frage nach den Konstitutionsbedingungen kritischer Gesellschaftstheorie. Der Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften kann als entscheidendes objektives Charakteristikum des Kapitalverhältnisses erst im Licht des praktischen Interesses an der Abschaffung von Ausbeutung und Herrschaft hervortreten, und dieses Interesse des unzufriedenen Schreibtischsubjekts Marx ist wiederum bezogen auf die massenhafte Auflehnung der Proletarier gegen eine Gesellschaft, die erstmals in der Geschichte die Subjekte befähigt, universellen Reichtum zu produzieren, aber sie, die Produzenten, die ihre Lebenszeit opfern, gleichwohl knechtet und draußenhält. Die gesellschaftliche Objektivität des Kapitalismus, wie Marx sie analysiert, ist nicht irgendeine, sondern die durch die Intention umwälzender Praxis vermittelte. (10) Weil Marx die naturwüchsige Nichtidentität der Proletarier als Tatsache schlicht voraussetzen konnte, brauchte er darüber keinen großen Worte verlieren. (11) Von eigenen Hoffnungen wie vom Wollen und Bewußtsein der Subjekte ließ Marx sich seine Theorie nicht rosa färben-, nur so gelang es ihm, das Kapital als einen Automaten zu erkennen, der sich die Dinge wie die Menschen gleichgültig subsumiert und dessen logische Entwicklung bis zu dem Punkt zu verfolgen, wo die kapitalistische Produktionsweise sich innerhalb ihrer eigenen Grenze aufhebt. Aber in der bewußten und bestimmten Abstraktion von eigenen Wünschen und widerständigen Subjekten ist die Kritik der politischen Ökonomie gleichwohl auf sie bezogen - andernfalls wäre sie zwar objektiv zutreffende Deskription des unheilvollen Weltlaufs, die aber weder ihren eigenen Kritik-Charakter begründen noch zu anderen Gesellschaftslehren eine Beziehung grundsätzlicher Kritik unterhalten könnte. Wahr ist die materialistische Kritik des Kapitals demnach nur als negative: indem sie mit aller Rücksichtslosigkeit den Gang des Verhängnisses entwickelt, bringt sie die Notwendigkeit und Möglichkeit der revolutionären Abschaffung des Kapitals ihren Adressaten mit aller Dringlichkeit zu Bewußtsein - nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Sie formuliert keine Utopie, kein Programm, sie ist keine positive Wahrheit, die die wirkliche Bewegung zu verwirklichen hätte. Diese Selbstbescheidung ist, anders als es z.B. die "Krisis" meint, kein der mangelnden Krisenreife des Kapitals geschuldetes Manko der Marxschen Theorie (12), sondern ihr unhintergehbarer anti- autoritärer und antipolitischer Wesenszug. Materialistische Kritik des Kapitals ist die Aufforderung, ihr den Gegenstand zu entziehen und so zu verhindem, daß ihre finsteren Diagnosen sich zur Gänze bewahrheiten. Die Wahrheit des Kapitals ist seine Abschaffung, die Wahrheit der Theorie ihre eigene Verüberflüssigung.

Als Ideologiekritik, die im Bereich des Gedankens besorgt, was die gesellschaftliche Bewegung praktisch unternimmt, ist die materialistische Kritik Krisenwissenschaft des Kapitals. Sie soll den Auflösungsprozeß des Kapitalismus beschleunigen helfen, der ohnehin im Gange ist. Wenn Marx das Kapital als prozessierenden Widerspruch kennzeichnet, dann heißt dies, daß er die Existenz des analysierten Zusammenhangs, so wie er ihn vorfand, für unmöglich hält. (13) Nicht zufällig beschreibt er im Manifest die bürgerliche Gesellschaft in den Kategorien des Goetheschen Zauberlehrlings: "Die bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions und Verkehrsmittel hervorgebracht hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor ..." (14) Die Krise ist die bewußtlose Selbstkritik der bürgerlichen Gesellschaft und sie zu Bewußtsein zu bringen heißt, die praktische Kritik zu befördern, die die bürgerliche Gesellschaft in die letale Krise stürzt. Die radikale Formkritik des Kapitals und die Revolutionstheorie sind also bei Marx auf wenn auch indirekte und durchaus prekäre Weise ineinander vermittelt; es sind keineswegs zwei voneinander abhebbare Schichten. Der abstrakt-unvermittelte Gegensatz von "Krise" als determiniert-objektivem Ereignis und" Emanzipation" als frei-subjektiver Handlung, wie ihn z.B. die "Krisis" aufmacht, ist bei Marx nicht -noch nicht - gegeben. Daß objektive Krise und subjektive Emanzipation, objektive Notwendigkeit und subjektive Dezision überhaupt als Gegensatz formuliert werden können, ist freilich ein untrügliches Indiz dafür, daß die von Marx anvisierte Einheit von Gesellschaftskritik und Revolutionstheorie unwiderruflich dahin ist. (15) Der Gesellschaftskritiker Marx behält schließlich gegen den Revolutionstheoretiker recht. Das ist, wie schon gesagt, kein Anlaß zur Genugtuung oder zur Freude, denn die Hoffnung, nicht recht zu behalten, gehört zum innersten Antrieb materialistischer Kritik. Die Geschichte des Kapitals, über der diese Einheit von Gesellschaftskritik und Revolutionstheorie zerbricht, besteht darin, daß es seinen inneren Widerspruch, den es als solchen nicht abschaffen kann, die Spitze abbricht, seinen Widerspruch als substantiellen also, an dem es, wäre es ein rein seiner eigenen ökonomischen Gesetzlichkeit überlassenes Verhältnis, längst zugrundegegangen wäre.

Auflösung und Rekonsolidierung der politischen Ökonornie

In mehrfacher Hinsicht ist das Kapitalverhältnis, als sich selbst überlassenes, seine eigene Schranke, es kommt sich andauernd selbst in die Quere, existiert nur als permanenter Krisenzusammenhang. Die kleindimensionierten Kapitalien der Gründerzeit mit dem zigarrerauchenden Schmerbauch an der Spitze konnten auf die Krise noch flexibel reagieren. Das ändert sich, sobald der Umschlag im Innenverhältnis des Kapitals, der ständig wachsende Anteil des konstanten auf Kosten des variablen Kapitals durch Anwendung von capital fixe, dessen "adäquateste Form die Maschinerie" (16) ist, unumkehrbar geworden ist. "Auf je größerer Stufenleiter sich daher das capital fixe entwickelt .... umso mehr wird "die Kontinuität des Produktionsprozesses oder der beständige Fluß der Reproduktion äußerlich zwingende Bedingung der auf das Kapital gegründeten Produktionsweise." (17) Anders gesagt: es ist die naturwüchsige Tendenz des Kapitals, sich als Verwertungsprozeß absolut zu setzen. Dementsprechend dringt es darauf, alles aus dem Weg zu räumen, was dem im Weg steht. Das betrifft zuerst den individuellen Kapitalisten: er "verschwindet als überflüssige Person aus dem Produktionsprozeß", das Kapital organisiert sich als Aktiengesellschaft. (18) Was Marx in einigen trockenen Worten diagnostiziert, ist das beherrschende Thema der Philosophie, Soziologie und Romanliteratur an der Wende zum 20. Jahrhundert: daß der Bürger, anstatt Souverän seiner Gesellschaft zu sein, zum Neandertaler seiner Ökonomie wird. Das Kapital selbst streift seinen an den individuellen Privateigentümer gebundenen, atomistischen Schein ab und kehrt als Aktiengesellschaft nunmehr einen kollektiven Charakter hervor. Aber auch als Gesellschaftskapital kann es, wenngleich auf ungleich höherer Stufenleiter, über sein atomistisch-partikulares Dasein nicht unmittelbar springen, es kann sich nicht unmittelbar als jeelles Gemeinwesen" setzen. (19) Der Selbstwiderspruch im Kapital als gesamtgesellschaftlich-totalem Verhältnis, seine eigene Krisenhaftigkeit erscheint vom Standpunkt des Einzelnen als abgespaltener, chaotischer Naturprozeß, als zufällig auf das produzierende Kapital einwirkende Störung. Die gesellschaftlichen Bedingungen und Resultate seines eigenen Treibens können den Funktionären des Kapitals nur als verdinglichte, veräußerlichte Prinzipien zu Bewußtsein kommen. Derart kommt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in Deutschland aus bekannten Gründen bereits früher, die fetischistische Selbstkritik des Liberalismus auf, die gegen Geld, Zirkulation und Händlertum als grundloses Schmarotzertum am Naturalleib der Ware, gegen das abstrakt-vereinzelte, vom Egoismus umgetriebene Subjekt und gegen gesellschaftszerstörenden Klassenkampf als Ursachen der Dauerkrise zu Felde zieht und die handwerkliche Produktion echter, gediegener Gebrauchswerte, den ganzheitlichen Menschen - als Kraftgermanen oder als dralle Maid - und eine substanzhaft-höhere, dynamische Ordnung wie Blut, Rasse, Volk o.ä. als Gegenprinzip zum bürgerlichen Individualismus geltend macht. Diagnose und Therapie entspringen demselben bürgerlichen Fetischismus, demselben Abspaltungsmechanismus.

Die Liquidierung des Liberalismus, der Übergang zum organisierten Kapitalismus, zum autoritären Staat vollzieht sich unter mythologischen, naturalistischen Parolen, in die der aufgeklärte Liberalismus kraft innerer Dialektik umgeschlagen ist. Was als Gegenprinzip zur bürgerlichen Gesellschaft und ihren Gebrechen ausgegeben wird, reproduziert, wiederholt und affirmiert in Wahrheit deren Charakteristika: Volk, Blut und Rasse als dynamische Prinzipien sind nichts anderes als die kapitalistische Vergesellschaftung als objektives Verhängnis. In solchen Ideologernen kündigt sich der barbarische Triumph des Kapitals als einer gleichgültigen und blinden Dynamik an, der absoluten Leere, die als absolute Fülle halluziniert wird, genauso, wie in der Beschwörung des "ganzen Menschen" sowie des konkreten, unverschandelten stofflichen Produkts (Gebrauchswert) deren totale Funktionalisierung heraufdämmert: "Das Wiederaufleben archaischer Mythologien entspricht den ideologischen Erfordernissen des Monopolkapitals." (20) Was das Kapital bislang als seine selbstverständliche Voraussetzung nicht weiter beachtete, wovon es abstrahiert hatte, wird nun erfaßt, geregelt und kontrolliert.

Da das Kapital aber die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen seines eigenen Wirkens unmöglich aus eigener Kraft produzieren und reproduzieren kann, wird jene Instanz auf den Plan gerufen, der in der liberalistischen Theorie nur als gestaltgewordener Vernunftkonsens der Bürger vorgesehen war: der Staat. Seiner bedarf das Kapital, um sein Überleben zu garantieren, um sich als von keinen krisenhaften Störungen behinderter Verwertungsautomat - so die Zielvorgabe - etablieren zu können. Der Staat legt kostspielige Förderungs- und Subventionsprogramme auf, entwickelt sich zum öffentlichen Auftraggeber, von dem im zivilen wie militärischen Bereich die Existenz ganzer Branchen abhängt oder betätigt sich selbst als Kapitalist. Diese unmittelbaren Eingriffe des Staates in den Zirkulationsprozeß des Kapitals, die eine Modifikation und partielle Außerkraftsetzung des Wertgesetzes als unanfechtbares, objektives Regulativ bedeuten, machen aber nicht die spezifische Differenz von liberalem und autoritären Staat aus. Entscheidend ist die Wandlung des Staates von einem bloßen Flankenschutz des Kapitals zum aktiv gestaltenden Gesellschaftsplaner. (21)

Einerseits legt der Staat den Kapitalisten sozialgesetzgeberische Zügel an - und bekennt damit ein, daß das Kapital als gesamtgesellschaftliches Verhältnis, als Tranzendentalsubjekt, nur durch systematischen Verstoß gegen die Interessen der empirischen Kapitalisten, der empirischen Subjekte, zu retten ist. Andererseits stellt sich die Aufgabe, das "rebellische Verhältnis" des Arbeiters zum objektiven Zwang, dem er unterworfen ist, zu brechen und ihm seinen Begriff gleichzumachen: er soll nichts weiteres sein als ein Arbeitskraftbehälter, eine das Kapital tragende Substanz, die den Zwang, dem sie subsumiert ist, zur eigenen Sache macht, als seine ureigene Freiheit begreift.

Mit diesem Wandel ist das Ende der politischen Ökonomie - in der Theorie wie in der Realität - besiegelt, der politischen Ökonomie, wohlgemerkt, als eines streng eigengesetzlich funktionierenden, sich selbst überlassenen Immanenzzusammenhangs. Im Adjektiv "politisch" drückte sich einmal das Vertrauen aus, daß der ökonomische Prozeß gerade als sich selbst überlassener genügend integrative, ausgleichende Kraft entwickeln würde, um des positiv gestaltenden, kruden Staatseingriffs entbehren zu können. Als Kritiker der politischen Ökonomie hatte Marx diesen Schein destruiert, indem er nachwies, daß die allseitige und scheinbar rein auf sich gegründete Vermittlung in Wahrheit ein Moment von Unmittelbarkeit immer schon voraussetzt: die politische Gewalt des Staates, ohne dessen unmittelbar gewalttätige Aktion die fetischisierten Naturgesetze des Kapitals nie hätten in Kraft treten können. Insofern ist die "ursprüngliche Akkumulation der Urtypus der kapitalistischen Krise; nur der inhaltliche Stellenwert der Krise, die Konstitution von Privateigentum aus Vergesellschaftung für die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, verkehrt sich mit der Eskalation des naturgeschichtlichen Krisenzusammenhangs, der geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation, in sein Gegenteil. Derselbe Krisentypus, der den ökonomischen Anfang des Kapitalverhältnisses bildet, besorgt auch dessen ökonomisches Ende." (22) Die nicht mehr hinreichende Politizität der Ökonomie wird staatlicherseits substituiert; damit wird aber umgekehrt die Politik ökonomisiert. Indem der interventionistische Staat sich für das "gemeine Wohl" als nunmehr positiv formulierte Generalklausel seines Wirkens zuständig erklärt und dadurch zum ersten Anspruchsadressaten der gesellschaftlichen Subjekte avanciert; indem er als Generalbevollmächtigter der Gesellschaft in die ökonomischen Verläufe auf Gedeih und Verderb hineingezogen wird, geht er jener relativen Autonomie, jener relativen Gesellschaftsüberhobenheit, die er als liberaler Staat besessen hatte, gerade verlustig. Die Einheit der politischen Ökonomie zerfällt und ihre Elemente und Trümmer bilden immer neue Konfigurationen, die jedoch nie mehr den gleichen Grad an Geschlossenheit und Verbindlichkeit erreichen wie in der klassischen politischen Ökonomie. Das ist der Grund, warum eine Theorie des Faschismus oder eine Theorie des späten Kapitalismus nie denselben Grad an Verbindlichkeit und Kohärenz aufweisen kann wie die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie, der Grund auch, warum nach Marx keine Gesellschaftskritik als "Kritik der politischen Ökonomie" mehr formuliert werden konnte. Wo es dem Kapital nur noch um die Erhaltung seiner selbst zu tun ist, die sogenannte "Volkswirtschaftslehre" entsprechend allen Wahrheitsanspruch preisgegeben hat, und stattdessen als degoutante Mischung aus Astrologie und Mathematik Politik- und Krisenberatung treibt, da bleibt kein Raum mehr für immanente Kritik.

Der Auflösungs- und Rekonsolidierungsprozeß der politischen Ökonomie hat, als epochaler Vorgang, recht unterschiedliche gesellschaftliche Modelle hervorgebracht - vom New Deal über den italienischen Faschismus, den Nationalsozialismus bis zu den spätkapitalistischen Verfassungsstaaten heutiger Machart. Insofern ist auch der deutsche Faschismus, was die allgemeine Tendenz, der er untersteht, als auch, was gewisse wirtschaftspolitische Maßnahmen im einzelnen betrifft, kein singuläres Phänomen, allerdings ist der deutsche Faschismus die radikalste Krisenlösungsstrategie, da er die fetischistische Selbstkritik des Liberalismus bis zur letzten Konsequenz vollstreckt und damit sämtliche barbarischen Potentiale der Wertvergesellschaftung aktualisiert. (23) Das faschistische Regime liquidiert die Zirkulationssphäre, und zwar, so wäre Horkheimers Diktum zu konkretisieren, im mehrfachen Sinne; im uneigentlichen Sinne: als Kaltstellung der Bürger und ihrer Repräsentanz, des Parlaments; im unmittelbaren Sinne: als substantielle, d.h. mit dem Verwertungsprozeß nicht unmittelbar identische, ihm widerstreitende Sphäre -und sistiert damit das Wertgesetz, das, hätte man es wirken lassen, in der Zusammenbruchskrise 1929ff. den defizitären Industrien den Untergang durch Pleite beschert hätte. (24)

Exkurs: Wert und Wertgesetz

Nach landläufiger linker Vorstellung ist Marxens Kritik der politischen Ökononie im Kern eine Lehre vom Wertgesetz. (25) Ziehen wir jene - einzige - Stelle im "Kapital" zu Rate, an der Marx eine Definition des Wertgesetzes gibt: "Es bedarf vollständig entwickelter Warenproduktion, bevor aus der Erfahrung selbst die wissenschaftliche Einsicht herauswächst, daß die unabhängig voneinander betriebenen, aber als naturwüchsige Glieder der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit allseitig voneinander abhängigen Privatarbeiten fortwährend auf ihr gesellschaftlich proportionelles Maß reduziert werden, weil sich in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzeit." (26) Marx bestimmt das Wertgesetz also unmißverständlich

1) als eine abgeleitete Kategorie, die die Bewegung und Bestimmung der Wert-Größe betrifft, also die Konstitution der Wert-Form als gesellschaftlich gültige Bestimmung immer schon unterstellt;

2) als eine Kategorie, die dem Tauschverhältnis, der Zirkulationssphäre zugehört, die an dieser Stelle jedoch noch in ihrem unmittelbaren Dasein betrachtet wird; erst später entwickelt Marx, daß sie selber vermittelt, d.h. Moment der Kapitalbewegung, ist. Daß die vollständig entwik kelte Warenproduktion", also der Wert als sich vermehrender, als Kapital, als Produktionsverhältnis, zwingende Voraussetzung nicht nur für die "wissenschaftliche Einsicht" in dessen Wirken, sondern für das Wirken des "Wertgesetzes" selbst ist, ist für den hier zu entwickelnden Zusammenhang notwendig anzumerken, da es in den verschiedenen Fassungen des "Kapital' unzulänglich dargestellt ist. (27)

Marx entwickelt im ersten Kapitel des ,Kapital" die Grundbestimmungen negativer Vergesellschaftung, einer Vergesellschaftung also, die sich auf der Basis de Abstraktion von Gesellschaftlichkeit ereignet. Die einzelne Ware, als Produkt privatarbeitsteiliger Produktion, ist zwar einerseits als Gebrauchswert-für-andere, als Tauschwert bestimmt, da in ihr ein gewisses Quantum gesellschaftlicher Arbeitszeit vergegenständlicht ist; andererseits ist sie nicht unmittelbar Tauschwert, sondern muß erst ein solcher werden. Der gesellschaftliche Charakter der Arbeitsprodukte, an sich im Produktionsprozeß gesetzt, kann für sich nur post festum, in der Zirkulation, sich erweisen: er kommt zur Erscheinung, indem er sich zugleich fetischistisch verhüllt, nämlich als Wert-"Eigenschaft" der Gegenstände.

Insofern - daran ist hier noch einmal zu erinnern - Substanz und Maß des Werts, die zur Herstellung eines Gebrauchswerts gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit" (28), eine gleichermaßen zwingende wie unbekannte Größe darstellt, sind Wert-Produktion und Wert-Gesetz notwendig aufeinander bezogen und somit als Einheit zu fassen. Die Einheit beider Momente setzt aber unmittelbar zugleich deren Widerspruch; als Produktionsverhältnis entwickelt der Wert das charakteristische Merkmal autistischer Selbstbezüglichkeit: sein einziger, bewußtloser, Zweck ist die quantitative Erhaltung und Vermehrung seiner selbst, dem alles andere untergeordnet ist. Produktion von Mehrwert ist an sich selbst maß- und endlos, konstitutionell gleichgültig dagegen, in welchem gesellschaftlich proportionellen Maß" die von ihr in Bewegung gesetzte Arbeit einem gesellschaftlichen Bedürfnis enntspricht. Da jede Stockung, jeder Stillstand partielle oder totale Entwertung des vorgeschossenen und vervielfältigten Werts bedeutet, solche

Entwertung aber unvermeidlich ist, solange die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit sich post festum, als unkalkulierbares Naturgesetz des Werts durchsetzt - deshalb gerät das Kapital als Produktionsverhältnis zunehmend mit sich selbst als Zirkulationsverhältnis in Konflikt. Als Produktionsverhältnis ist der Wert ein über seine Gegenständlichkeitsformen (Geld, Ware) übergreifendes Subjekt, und als solches ist er naturwüchsig bestrebt, sich, in weicher Form auch immer, vom Wertgesetz als einer, aber eben nicht seiner einzig möglichen Durchsetzungsform, zu emanzipieren. Sämtliche Eingriffe in die Zirkulationssphäre mögen das Wertgesetz sistieren oder modifizieren - aber sie setzen den Wert bzw. das Prinzip der Verwertung des Werts nicht nur nicht außer Kraft, sondern bringen es zur Vollendung seiner selbst als einer blinden und tautologischen Dynamik. (29)

Zweite Natur und Bandenherrschaft

Der Staat als Nachfrager nicht-reproduktiver Werte, öffentlicher Arbeiten und Rüstungsgüter, substituiert die Zirkulation; dadurch bleibt formell alles gleich: es wird produziert und dann verkauft und gekauft - und es wird zugleich alles anders: die öffentlichen Arbeiten und Rüstungsgüter sind allgemeine und konkrete Gebrauchswerte (30), ihnen korrespondiert kein anderes Bedürfnis als das nach Selbsterhaltung des Systems: es muß weiter gehen, "auch wenn alles in Scherben fällt". Von der Arbeit als Gebrauchswert par excellence, als Emanzipationsgeschichte machende und Emanzipation vorbereitende, bleibt übrig allein die sture, zwanghafte, bestimmungslose Verausgabung von menschlicher Energie, die zum Zweck erhobene Zwecklosigkeit als staatlich gesetzte. Die Kategorie gesellschaftlich notwendiger Arbeit und ihr Gegensatz zur Mehrarbeit, logisch zwingend eine post-festum-Kategorie, ist außer Kurs gesetzt. Da kein objektives, dem Einzelkapitalisten als Zwangsgesetz sich mitteilendes Kriterium, zu deren Bestimmung existiert, wird es in blinder Willkür - dem Gegenteil von Freiheit - vom faschistischen Staat exekutiert. Verwertung und Vernichtung gehen unmittelbar ineinander über und damit hebt sich das Kapital, indem es sich vollendet, zugleich auf. Auschwitz ist kein besonders grausiges Pogrom, sondern, wie Moishe Postone schreibt, eine "Fabrik zur Vernichtung des Werts", ein "teuflischer industrieller Prozeß" (3 1). Die beschworene absolute Konkretion realisiert sich als Vollendung äußerster Abstraktion, die sogenannte "antikapitalistische Revolution", die die Nazis inszenierten - die Befreiung des organischen Inhalts der Ware von dem ihr nur übergestülpten Tauschwert, die Restitution des konkreten Menschen und der organischen Einheit von Volk und Staat - realisiert sich als Vernichtung der abgespaltenen und als Anti-Subjekt "Jude" personifizierten Desintegrationserscheinungen des Kapitalverhältnisses sowie als totale Funktionalisierung des Einzelnen und totale Mobilmachung aller gesellschaftlichen Gruppen zur Vorbereitung auf den Raubkrieg.

Das faschistische Regime liquidiert mit dem Wertgesetz den naturwüchsigen, in seiner entfremdeten Gestalt immer noch Vernunft indizierenden Krisenmechanismus, aber nur, um die Krise in ungleich katastrophischerem Ausmaß zu reproduzieren, ökonomisch wie politisch. In ökonomischer Hinsicht bringt es die Rüstungskonjunktur mit sich, daß

1) -.. immer größere Teile aller Erzeugnisse als Rüstungsgüter dem weiteren Akkumulationsprozeß entzogen werden ... in ihnen ist zwar gesellschaftliche Arbeit vergegenstänndlicht ... (aber) ... sie übertragen ihren Wert nicht, sondern werden im Krieg unreproduktiv konsumiert.

2) ... nicht nur das konstante, sondern zunehmend auch das variable Kapital unreproduktiv konsumiert wird. Ein immer größerer Teil der qualifizierten Fachkräfte wird aus der Produktion abgezogen und ,unreproduktiv' als Soldat an der Front eingesetzt ... statt zur erhofften Erweiterung der Reproduktionsbasis kommt es - trotz voll ausgelasteter Kapazitäten - zu einer sich beschleunigenden Verengung dieser Basis (,negative Reproduktion') ... So ist die staatliche Rüstungsfinanzierung nur ein Versprechen auf zukünftige Werte. Die Realisierung dieses Versprechens aber hängt vom Ausgang des Krieges ab, wird also nicht vom deutschen Kapital autonom entschieden, sondern im militärisch ausgetragenen imperialistischen Konkurrenzkampf." (32) (33)

Aber auch politisch zeigen sich Desintegrationserscheinungen. Im Faschismus reorganisiert sich die bürgerliche Gesellschaft als totale Verwertungs- und Vernichtungsgemeinschaft - und zerfällt als totale zugleich in ein an Bandenkämpfe gemahnendes Ensemble verschiedener Gruppen und Individuen, die allesamt den Eindruck vermeiden wollen, unsichere Kantonisten zu sein und deshalb untereinander einen Konkurrenzkampf bis aufs Messer um Einfluß, Macht, Gratifikationen, den Anteil an der Beute führen. Es ist gerade diese Konkurrenz, die den Vernichtungseifer befeuert. Was Blut und Boden, völkische Reinheit etc. sein sollen, weiß keiner; es sind Mobilisierungsparolen, die wie der Werbeslogan, wie die kulturindustriellen Schlagworte, keiner Erfahrung mehr zugänglich sind - und genau deshalb bemühen sich alle, sie mit "Leben zu erfüllen", einem Leben, um das sie die anderen bringen. Als ein Ensemble rivalisierender Banden bildet der deutsche Faschismus bereits Züge jenes Interessenpluralismus aus, auf den man sich in der BRD als eine originär demokratische Errungenschaft so viel einbildet. (34) Überhaupt sind, folgt man Wolfgang Pohrt, Bandenzusammenhang und Interessenpluralismus Synonyme, und dieses Phänomen hat ursächlich mit der Zerfall des Gebrauchswerts und der Versteinerung der Gesellschaft zum absolut fremden und deshalb absolut verfügbaren Objekt zu tun: "Banden entstehen, wenn den Menschen die Gesellschaft, der sie zugerechnet werden, fremd geworden oder fremd geblieben ist. Bande heißt, daß Menschen sich zur zweiten Natur, zur Gesellschaft, wie zur ersten verhalten." (35) "Das Ensemble, das die Banden bildeten, nennt sich heute zum Beispiel Pluralismus. Der Ausdruck bedeutet, daß die Gesellschaft sich aufteilt in Gruppen, deren Bildung keiner inneren Logik gehorcht ... Ihr einziger Daseinsgrund ist der Wille der koalierenden Einzelnen, beim Verteilen der Beute nicht zu kurz zu kommen. Die Formel vom großen Kuchen, den es zu verteilen gelte, drückt das veränderte Bewußtsein aus. Selbst zu dem, was sie selber produzieren, verhalten die Menschen sich wie zu geraubtem Gut. Weil sie die Welt als Beute betrachten, organisieren sie sich in Banden." (36)

Substantialisierung des Tauschwerts

Im selben Maße, wie der deutsche Faschismus den Gebrauchswert par excellence und damit auch den trivialen handfest liquidiert, nimmt der Tauschwert substantialistische Züge an, in denen der alte Fetischcharakter der Ware terminiert: am Produkt wird nicht mehr ein bestimmter Nutzeffekt, eine bestimmte Eigenschaft begehrt, um derentwillen man in es vernarrt ist, sondern ein symbolischer Wert, die Insignien von Gemeinschaft, der Ausweis des Mit-dabei-Seins, des Prestiges. Der Faschismus kann diese Substantialisierung des Tauschwerts aber noch nicht wirklich einlösen: in Form von Parteitagsspektakeln, Massenaufmärschen, Werbekampagnen und völkischen Erhebungskonzerten antizipiert er freilich die entfaltete Kulturindustrie und im diabolischen Sinne läßt sich sogar der von ihm verbrochene Weltkrieg als kulturindustrielles Live-Event, mit der Masse in der Hauptrolle, kennzeichnen. Die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Volkswagen und Fernsehen bleibt dagegen zunächst propagandistisches Spektakel. Aber auch im eigentlichen Sinne fungiert der Faschismus, retrospektiv gesehen, als Schrittmacher der Kulturindustrie und als Zerstörer des Gebrauchswerts von Kunst durch seine demokratische Nivellierung zum verfügbaren Kulturgut: in den Radio-Konzerten mit sogenannter klassischer Musik und in der Produktion jenes Schlager-Gedudels, das Goebbels völlig zurecht als die ideale Durchhaltepropaganda erschien. (37)

Was im Faschismus noch als über weite Strecken vom Alltagsleben getrennte Veranstaltung inszeniert wurde, das gemeinschaftsstiftende Moment des Tauschwerts, etabliert sich im postfaschistischen Deutschland als medial und reklameförmig inszenierter Bestandteil der alltäglichen Ware selbst. (38) Im Volkswagen, einem Produkt des Faschismus, der zum Symbol des Wirtschaftswunders avanciert und mit dem man auf den vom Führer gestifteten und von seinen Nachlaßverwaltern großzügig ausgebauten Autobahnen die Landschaft in einer junktionellen Kombination von mechanischem und Gas-Krieg" (39) verwüsten kann; im Schlagersingsang von den Capri-Fischern über Heimatlos bis zu Techno, worin die vom Produktionsprozeß Ausgelaugten Ablenkung und Entspannung suchen, sich dabei aber freiwillig ungleich mehr an Stumpfsinn zumuten, als die Arbeit ihnen jemals abverlangte (40); den Neckermann-Reisen, mit denen man das Ausland nun zivil überfallen kann - kurz: in der ganzen dauerpräsenten Totalität funestester Waren konstituiert sich das, was der Faschismus anvisiert hatte, aber nicht realisieren konnte: eine Konsumgesellschaft des ganzen Volks.

Mit anderen Mitteln, aber in Anknüpfung an die bzw. Fortführung der gesellschaftlichen Resultate seines faschistischen Vorgängers realisiert das postfaschistische Gemeinwesen die Konstitution des Kapitals zum besinnungslos ablaufenden Verwertungsautomaten. Im Gegensatz zum Faschismus wird, die Zirkulationssphäre zwar reinstalliert, aber als Schein des Scheins, als blutleeres Gespenst, als entsubstantialisierter Ablauf, Produktion und Zirkulation stehen scheinbar im althergebrachten Verhältnis, es wird produziert und getauscht wie eh und je. Aber die entscheidenden Determinanten, die Ware und das ihr korrespondierende Bedürfnis, damit auch das Subjekt, haben sich von Grund auf geändert. Am Produkt interessiert nicht länger der Nutzen, die Befriedigung, die sich nur im privaten Konsum, der Aneignung in Abgeschiedenheit finden läßt, sondern es interessiert das mit dem Produkt verbundene Gemeinschaftserlebnis, in der sich die einzelne Ware als pars pro toto der Warentotalität präsentiert. Dem korrespondiert eine Veränderung der reklameförmigen Präsentation der Waren: nicht mehr ihre - weithin fiktive - Gebrauchswerteigenschaft wird angepriesen, sondern ihr sozialisierender Effekt, der ihnen als Ding zukommen soll. Der Verfall des Gebrauchswerts und die mit ihr einhergehende Beziehungslosigkeit zum Objekt - abgestorbene Objekt-Libido - endet derart mit der Metaphysizierung, ja Magisierung des banalen Ramschs. Als in völliger Erstarrung, Fremdheit und Beziehungslosigkeit gegeneinander verselbständigte Pole treten Bedürfnis und Produkt nur als usurpatorische Verfügung jenes über dieses in Beziehung zueinander. Seiner phantasmagorischen Substanz kann man nicht mehr im Konsum, sondern nur noch im Augenblick des Austauschs habhaft werden: von daher die immer perfektere Ausrüstung nicht nur der Kaufhäuser, sondern der Innenstädte, der Bahnhöfe, der Restaurants zu Erlebnisparks. (41)

Im Gegensatz zur faschistischen Staatskonjunktur, die das Wertgesetz radikal sistierte, um den Preis umso größerer ökonomischer und gesellschaftlicher Desintegration, wirkt die postfaschistische Methode der Restauration der Zirkulationssphäre, die dasselbe Ziel, die Ausschaltung der Krise verfolgt, ungleich prekärer. Zwar ist das umworbene Bedürfnis als der Kapitalverwertung nunmehr gleichgemachtes und damit ebenbürtiges, will sagen bestimmungslos-gleichgültiges so beschaffen, daß es an sich nie definitiv befriedigt oder gar übersättigt werden kann. Da jedoch nach altem Schema der Verwertungsprozeß in endlichen Produkten resultiert und das unendliche Bedürfnis gleichwohl nur als je individuell zahlungskräftiges in Erscheinung zu treten gezwungen und von Belang ist, tritt auch der Mechanismus von Überproduktion und Krise wieder in Kraft -aber: 1) seinem zeitlichen Verlauf nach gestreckt und modifiziert sowie 2) seiner substantiellen Bestimmung beraubt: von der Krise läßt sich nur sagen, daß sie eine Funktionsstörung, eine ökonomische Disparität, ein Reibungsverlust im System ist, der vom Staat als Handlungsbedarf thematisiert wird.

Weil das Herrschaftspersonal den Preis kennt, den das faschistische Experiment der Staatskonjunktur gefordert hat, strebt es diese Radikallösung, Sistierung des Wertgesetzes, auch gar nicht an. Die politische Konsequenz besteht vielmehr gerade darin, zu vermeiden, daß ökonomische Krisen sich zugleich als gesellschaftliche Krisen geltend machen, um so die faschistische Radikallösung zu vermeiden. Je energischer die BRD sich freilich vom sog. "Unrechtssystem" als dem ganz Anderen distanziert, desto ähnlicher wurde und wird es ihm, denn: das System aktiver Krisenprävention, das sie installiert und perfektioniert hat, baut nicht nur auf den gesellschaftlichen Resultaten des Faschismus - der Verschmelzung von Staat und Gesellschaft - sondern reproduziert sie institutionell in Form eines formierten, totalitären Pluralismus, in der die Konsumgesellschaft des ganzen Volkes ihren politischen Ausdruck findet. Im Konsens der Demokraten, deren einzelne Fraktionen, ein Ensemble von Cliquen und Verbänden, um die Verteilung des sogenannten "großen Kuchens" sich kabbeln und dabei stets "mit Verantwortung und Augenmaß" um die allgemeine Wohlfahrt ringen, wiederholt sich die Volksgemeinschaft der Atomisierten von gestern. Zu ihr hat jeder Zutritt, vorausgesetzt, er vermag sein vorgebrachtes Interesse vorab als den höheren Zielen des Allgemeinen zuträgliches zu bestimmen und damit zu relativieren: "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" heißt heute Gemeinwohlverpflichtung - und daß sie fähig sind, diese zu erfüllen, haben gerade die Linken und die Linksliberalen seit den 60er Jahren zu Genüge bewiesen und damit das System des totalen Konsenses erst perfektioniert. Die faschistische Einheitspartei feiert ihre Wiederauferstehung im System der Volksparteien, die in Programmatik und populistischer Rhetorik nach dem Muster "Der ehrliche Bürger und Steuerzahler", "Die Menschen draußen im Lande" das Allgemeine als besonderen Zweck vertreten und sich der einvernehmlichen Exekution staatspolitischer Notwendigkeiten und Sachzwänge widmen. Man hat oftmals die technokratisch-nüchterne SachzwangIdeologie, das legitimatorische Grundmuster der postfaschistischen BRD, als Abkehr von der Politisierung aller Lebensbereiche angesehen, die den Faschismus ausgezeichnet hatte. Tatsächlich aber ist die allfällige Rede von den Sachzwängen nur die technokratisierte Variante der völkischen Vorsehung, als deren Vollstrecker sich der Führer inszenierte. Beide Muster treffen sich im Kokettieren der Herrschenden mit der eigenen Ohnmacht, der Anrufung höherer Mächte, die der eigentliche Souverän seien - und diese Rhetorik macht den faschistischen Grundzug der nachbürgerlichen Gesellschaften aus. Politik als vorbeugende Abwehrjederzeit drohender Krisen, als Vollstreckung des willenlosen Willens höherer Mächte auszugeben, heißt Politik als permanenten Notstand zu betreiben - darin besteht die "Lehre aus der Geschichte" und die Integration des entfesselten faschistischen Ausnahmezustands in die demokratische Normalität. Damit kann das Sachzwang-Regime aus gegebenem Anlaß jederzeit und unmittelbar in den offenen Aunahmezustand und die öffentliche Mobilmachung übergehen - wie es übrigens im Grundgesetz, mit dem noch jede Protestbewegung wie mit dem Weihwassersprengel umherwedelt, angelegt ist und wie die Geschichte der BRD zweimal bewiesen hat: in der gnadenlosen Verfolgung der RAF als Staatsfeind Nr. 1, an der sich die in Vergasungs- und Hinrichtungsphantasien schwelgenden Bürger, vom Staat offen ermuntert, mit Denunziation beteiligen konnten und in der Liquidierung des Asylrechts, als der Staat, um die widerspenstigen Teile der Öffentlichkeit auf Linie zu bringen, nicht zögerte, den faschistischen Mob für seine Zwecke spontan zu rekrutieren, um sich kurz darauf wiederum als kollektiver Gesamtantirassist in Szene zu setzen.

Zur Krise des postfaschistischen Sozialpakts

Die Erosion dieses Modells, das, wenn man es denn schon nach Automarken benennen will, hierzulande nicht das fordistische, sondern Kraft-durch Freude-Wagen-istische heißen müßte, zeichnet sich seit den 70er Jahren ab: Die faktische Abkoppelung von weiten Teilen der sogenannten "Dritten Welt" vom Weltmarkt sowie der Zusammenbruch des "realen Sozialismus", jenes staatskapitalistischen Modells nachholender Industrialisierung setzen es unter Zugzwang. Als gestaltgewordene Feinde waren der "reale Sozialismus" und diejenigen, die im Inneren Systernüberwindung proklamierten, ein Element von Stabilität, Integration und ideologischer Selbstvergewisserung: innerhalb der "Systemkonkurrenz" konnte und mußte das prosaische Geschehen der Wertverwertung als überlegene Vergesellschaftung legitimiert werden. Mit dem Wegfall des inneren und äußeren Feindes war die ideologische Veredelung in dem Augenblick dahin, in dem sie ihren größten Triumph feierte. Genau das bekommt der kapitalistischen Vergesellschaftung aber schlecht, denn ohne irgendein ihren Prinzipien widerstreitendes Moment, an dem sie sich bewähren muß, ist sie ihrer selbstzerstörerischen Dynamik preisgegeben; deshalb die panische Suche nach immer neuen und in immer kürzeren Abständen verschlissenen Feindprojektionen. In Deutschland waren zuerst die Asylbewerber dran, deren man sich fast vollständig entledigt hat. An ihnen wurde probeweise durchexerziert, was man mit Leuten anstellen kann, wenn sie ganz unten sind und ob etwa einer dagegen aufmuckt. Das Experiment ist erfolgreich verlaufen und immer neue Feindbilder werden lanciert wie "organisierte Kriminalität" oder "Kinderschänder".

Diese haben es aber an sich, daß sie nicht dazu taugen, eine als zwar gefährliche, aber gleichzeitig eingrenzbar vorgestellte Gruppe zu präsentieren. Der Verdacht ist universell geworden und anstatt zu integrieren, kann die Feinderklärung Atomisierung, Feindseligkeit und Konkurrenz nur noch verschärfen. So ist ein allgemeines Hauen und Stechen im Gange: Politik gegen Bevölkerung, die als ein Haufen von Steuerbetrügern und Sozialschmarotzern vorgestellt wird, Bevölkerung gegen Politik, in der sich korrupte und karrieregeile Gestalten tummeln, Politik gegen die "Turbo-Kapitalisten" in den Unternehmerverbänden, Politik und Bevölkerung gegen das Management, das seiner "volkswirtschaftlichen Verantwortung" nicht gerecht werde und schließlich alle gegen alle bei der Verfolgung von "Triebtätern". Daß zeitgleich verdachtsunabhängige Kontrollen, Lauschangriff und Maßnahmen, in denen der Staat die Definition und Verteidigung seiner Grenzen zunehmend diffundieren läßt und ins Innere verlagert, paßt dazu aufs Trefflichste.

In diesen Formen reproduziert sich politisch der verschärfte Verdrängungswettbewerb, in den das massiv kriselnde Kapital die Leute treibt. Bunter denn je präsentiert sich der Schein der Warentotalität, aber die Insassen der "Konsumentengemeinschaft" können sich zunehmend nur noch die Nase an den Schaufensterscheiben plattdrücken oder in den immer perfekter durchgestylten Konsumtempeln herumirren, wo sie vom Sicherheitsdienst -eines der wenigen wirklich noch florierenden Gewerbe - als Verdächtige identifiziert und entsprechend behandelt werden. Wieder einmal in diesem Jahrhundert hat das Kapital dank seiner eskalierenden Produktivität die unmittelbaren Produzenten in Unterstützungsempfänger verwandelt. Damit beraubt es sich aber zusehends der Konsumtionskraft, auf die es angewiesen ist, will es den Wert der Waren realisieren. Das Kapital scheint sich deshalb zunehmend auf den Weltmarkt zu orientieren, was seit dem Wegfall des "Realsozialismus" und der Konstitution des einen Weltmarkts, auf dem nun alle unmittelbar als Konkurrenten gesetzt sind, ohnehin zwingend geboten ist - aber da dies alle tun, kann sich die Krise nur verschärfen.

Eine Konstellation kündigt sich an, die oberflächliche Zeitgenossen dazu verleiten mag, von einer Rückkehr des Liberalismus zu sprechen, ihrem Gehalt nach aber das Gegenteil ist: auf den Weltmarkt genannten internationalen Verdrängungswettbewerb orientiert, läßt das Kapital die Produzenten als überflüssiges, ausrangiertes Humankapital wieder gleichsam exterritorial zur Ökonomie stehen - mit dem entscheidenden Unterschied, daß die Exterritorialisierten zugleich absolut Integrierte, mit Haut und Haar und Bewußtsein unwiderruflich an das System Gekettete sind. Daß sie dies erkennen und sich revolutionär dagegen wehren, ist eine, wenn auch unwahrscheinliche Möglichkeit. Die andere, wahrscheinlichere ist die, daß das Bedürfnis nach der gemeinschaftsstiftenden Totalität des Tauschwerts, die von der bunten Welt der Waren mangels Äquivalent, vermittels dessen sie nur erreicht werden kann, immer weniger zu befriedigen ist und deshalb auf unmittelbare Inszenierung von Gemeinschaftserlebnissen verfällt, wie sie z.B. in der Zone praktiziert werden: Hier möchte ein großer Teil der Heranwachsenden pars pro toto für eine ganze Gesellschaft am liebsten alles totschlagen, was etwa spontaner Regungen noch fähig sein könnte und nicht ihrem eigenen stumpfen, erloschenen, leichenhaften Dasein als am Tropf staatlicher Alimentierung hängende und deshalb sozial bereits tote Subjekte gleicht - was natürlich nicht heißt, daß die ebenso stumpfsinnige Lohnarbeit bzw. deren ABM-Simulation sie etwa lebendig machen würde. Gleichzeitig aber hat die wachsende organische Zusammensetzung des Individuums und die Atomisierung der konkurrierenden Einzelnen ein Ausmaß erreicht, das die Verdichtung des Gemeinschaftswahns zum Staatsprojekt sabotiert (das betrifft nicht nur die Skins als soziale Bewegung, sondern mittlerweile auch unübersehbar die bislang erfolgreichen faschistischen Parteien und Bewegungen: Haider und LePen). Nach klassischem Vorbild wären die vom Produktionsprozeß Ausgespienen zwar reif für Militär und Massenaufmärsche, aber der grassierende soziale Autismus macht zunehmend - nacheiner Diagnose Pohrts - sogar zur Bandenbildung unfähig.

Der postfaschistische Staat selber zeigt nach wie vor keine Ambitionen, solche uniformierten Banden zu organisieren; und warum sollte er auch zu so eindeutigen und kruden Formen greifen, wenn es einerseits eine ganze Palette von Optionen gibt, Arbeit zu prekären Bedingungen zu mobilisieren, vom Kombilohn über unmittelbare Zwangsarbeit bis zum Ehrenamt und dem Dienst in der Bürgerwehr und andererseits die Bereitschaft, sich als Subjekt noch zu den miesesten Bedingungen bedingungslos zu funktionalisieren, insbesondere im akademischen Proletariat als Gipfel von Freiheit und Flexibilität gepriesen wird? Zweifellos ist es mit dem Wohlfahrtsstaat vorbei - aber Wohlfahrt, im Sinne materieller Versorgung war nie der Zweck, sondern Mittel zur Integration und Krisenprävention. Sozialstaat heißt: der Staat beansprucht universelle Regelungskompetenz für gesellschaftliche Abläufe, und sie bleibt bestehen, auch wenn er sie nicht effektiv wahrnimmt. Noch der Verzicht auf den "wohlfahrtsstaatlichen" Eingriff ist mittlerweile ein, auf Widerruf vollzogener, staatlicher Akt. Von einem Ende des autoritären Staates kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil er für die subalternen Klassen in die Position einer omnipotenten Instanz gerückt ist, von der sie erwarten, daß sie sie gegen die Wechselfälle und Härten der kapitalistischen Konjunktur gefälligst in Schutz zu nehmen hat. Das wird der Staat, in welch reduzierter Form auch immer, besorgen, nur daß es sich für die Mobilisierten stets weniger rechnet. Mag sein, daß sie daraus die richtigen Konsequenzen ziehen. Solange sie aber, wenn überhaupt, im Namen und unter Anrufung des "eigentlichen" Staatsinteresses protestieren, bekunden sie, daß sie eine zuverlässige Stütze bei der neuerdings wieder unverhüllten Barbarisierung des Kapitalismus sein werden.

Clemens Nachtmann

Anmerkungen:

1) vgl. dazu nur die Kontroverse zwischen Gert Schäfer und Reinhard Opitz in: Reinhard Kühnl (Hrsg.), Texte zur Faschismusdiskussion 1, Reinbek 1974

2) Wolfgang Pohrt Theorie des Gebrauchswerts. Über die Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen, unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt, Veränderte Neuausgabe (im folgenden zitiert als:"Gebrauchswert"), Berlin 1995, Kapitel "Produktive Arbeit", S. 80ff. sowie: Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen "Kapital", Frankfurt a.M. 1968, Band 1, S. 98ff., Band 2, S. 413ff.

3) Pohrt, Gebrauchswert, a.a.O., S. 95; zur Form-Inhalt- Dialektik bes. S. 11 Of.

4) Pohrt, Gebrauchswert, a.a.O., S. 83 (Hvhb. cl.)

5) vgl. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomle, Berlin/DDR 1953, S. 132 sowie S. 204

6) Pohrt, Gebrauchswert, a.a.O., Exkurs: Begriff und Sache (S. 131ff.) sowie S. 171ff.

7) Ulrich Enderwitz, Totale Reklame, Berlin 1986, S. 73ff., insbes. S. 77f.

8) Hans-Jürgen Krahl, Zu Lenin: Staat und Revolution, in: ders: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution, Frankfurt a.M. 1971, S. 185

9) Johannes Agnoll hat dafür eine lapidare Redewendung geprägt: der Nachtwächter der Bourgeoisie war immer zugleich der Tagespolizist gegen das Proletariat

10) Dazu: Frank Böckelmann, Über Marx und Adorno. Schwierigkeiten der spätmarxistischen Theorie, Neuauflage, Freiburg 1998, insbes. S. 50ff.; vgl. auch Frank Böckelmann, Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit, Freiburg 1987, Dokumentarischer Anhang, S.92ff.

11) Böckelmann, Über Marx und Adorno, a.a.O., s. 118ff.

12) vgl. dazu: Krisis Nr. 18/1996, S. 20 bzw. S. 70

13) Böckelmann, Über Marx und Adorno, a.a.O., S.131

14) Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, Berlin/ DDR 1983, S. 467

15) Es trifft also zu, was der sogenannten Kritischen Theorie und Leuten, die sich positiv auf sie beziehen, gerne und häufig zum Vorwurf gemacht wird: daß sie keine Vermittlung von theoretischer und praktischer Kritik der Gesellschaft anzugeben vermöge, die praktische Aktion vielmehr nur als grundlosen, quasi existenzialistischen Akt fassen könne und daß diese Dichotomie auch auf sie selbst zurückschlage: auch sich selbst könne die Theorie nicht wahrhaft materialistisch begründen, sondern ebenfalls nur als kontingentes Dagegensein. Einen Vorwurf kann diese Diagnose aber nicht begründen, denn die Dichotomie von Gesellschaftstheorie, die das Zwangsgefüge beim Namen ruft und Revolution, die einstweilen nur als existenzialistische Tat vorstellbar bleibt, ist keine Erfindung der Theorie, sondern Resultat der Realgeschichte; besser diesen Sachverhalt ins Bewußtsein aufzunehmen als ihn zu leugnen. Dann würde man nämlich auch auf die Chance verwiesen, die dieser eröffnet: endlich den Hang der Kritik, positiv zu werden, abzulegen. Die Suche nach wasserdichten Letztbegründungen, egal ob sie bei der Geschichte, der Moral oder anderem Zeug landet, ist ohnehin ein durch und durch reaktionäres Unterfangen, umso mehr, wenn es um die Abschaffung des Kapitals geht. Widerstand, Dagegensein, Moral verstehen sich von selbst oder eben nicht; positiv abgeleitet und kodifiziert richten sie schon wieder ein neues Zwangsgefüge auf, das nur des Souveräns bedarf, der es vollstreckt. An der Theorie liegt es jedenfalls nicht, wenn niemand sie aus ihrem wahrlich viel zu langem Wartestand erlöst und ihren Materialismus, ihren revolutionären Impetus bewahrheitet. Vgl. dazu auch: Clemens Nachtmann, Adornos Orthodoxie, in: Bahamas 22/1997, S. 44ff.

16) Marx, Grundrisse .... a.a.O., S. 589

17) Marx, Grundrisse .... a.a.O., S. 591 (Hvhb. i.Orig.)

18) Marx, Das Kapital, Band 111, Berlin/DDR 1983, S. 401 sowie S. 451ff.

19) Vgl. dagegen Wolfgang Pohrt, Gebrauchswert, a.a.O., S. 241ff.

20) Hans-Jürgen Krahl, Zur Geschichtsphilosophie des autoritären Staates, 2. Fassung, in: ders., Konstitution und Klassenkampf, a.a.O., S.230

21) vgl. dazu Johannes Agnoli, Der Staat des Kapitals, in: ders., Gesammelte Schriften Band 2, Freiburg 1995, S. 60ff.

22) Krahl, Zu Lenin: Staat und Revolution, in: ders., Konstitution und Klassenkampf, a.a.O., S.184

23) vgl. dazu Stefan Breuer: Faschismus in Italien und Deutschland; Gesichtspunkte zum Vergleich, in: ders., Aspekte totaler Vergesellschaftung, Freiburg 1985, S. 199f. In Ländern, in denen eine formelle Trennung von Staat und Gesellschaft sich zeitweilig institutionalisieren konnte, hat auch der spätkapitalistische Staat, der-in der Konsequenz des Liberalismus, aber dadurch mit seinen Grundannahmen brechend - als Gesellschaftsplaner tätig wird, den unmittelbar autoritären, gesellschaftsüberhobenen Charakter nie ganz abstreifen können. Weil dort weder der Komplex staatlicher Sozialleistungen sich von selbst versteht noch gesellschaftliche Auseinandersetzungen erfolgreich verrechtlicht sind, der Staat vielmehr in Klassenkämpfen parteilich und gewaltsam vorgeht, ist der Staat bis heute als von der Gesellschaft, mit der er auch dort verwachsen ist, nichtsdestotrotz separate Institution zumindest kenntlich.

24) vgl. dazu: Alfred Sohn-Rethel, Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismmus, Frankfurt a.M. 1973, S. 41ff.

25) vgl. dazu nur, pars ppro toto, Christian SchmidtsArtikel"Jenseits vom Wertgesetz ...in: Bahamas Nr. 14/1994, S. 47ff.

26) Karl Marx, Das Kapital, Band 1, in: MEW 23, Berlin/DDR 1977, S. 89

27) Dieser Umstand begünstigte die verschiedensten Fehlinterpretationen: um das erste Kapitel des "Kapital" recht zu verstehen, muß man sich der Vorläufigkeit mancher Bestimmungen, aber auch der Vorgriffe auf später Entwickeltes stets bewußt sein. Zumal die Zweitfassung des "Kapital" aber läßt sich streckenweise durchaus so lesen, als sei der Wert eine unmittelbar quantifizierbare Größe und die Crux am Kapitalverhältnis eben diejenige, daß in ihm die Bestimmung der Wertgröße durch gesellschaftlich notwendige Arbeit "planlos" und "anarchisch" über den Markt erfolge, anstatt "bewußt" geplant zu werden. Kein Wunder also, daß selbst diejenigen, die ansonsten von Ökonomiekritik keinen blassen Schimmer haben, immer noch die Litanei vom "Wertgesetz" herunterbeten können.

28) Karl Marx, Das Kapital, Band 1, in: MEW 23, a.a.O., S. 54

29) Leider liegen auch die reflektiertesten Analysen über den historischen Wandel des Kapitals keineswegs immer in einer so präzisen Fassung vor, die sie gegen Mißinterpretationen immunisieren würde. Wenn z.B. Wolfgang Pohrt in der "Theorie des Gebrauchswerts" davon spricht, daß "das Wertgesetz ( ... ) als autonomes, universelles Regulativ der gesellschaftlichen Produktion ( ... ) außer Kraft tritt .2, während einige Kapitel später dann die Rede davon ist, daß "der Wert als universelles, autonomes und objektives Regulativ der Produktion zu bestehen aufgehört hat" (Pohrt, Gebrauchswert, S. 192 bzw. 249, Hvhb. cl.), dann ist dieses terminologische Changieren kein Indiz für einen Widerspruch in der Sache, sondern pure Schlamperei, und dies an einem Punkt der Gedankenführung, wo gerade größte begriffliche Präzision sachliches Gebot ist (Vgl. dazu auch die Aufsätze von Friedrich Pollock und Max Horkheimer in: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939 - 1942 (Hrsg. Helmut Dubiel und Alfons Söllner), Frankfurta.M. 1981). Die Auffassung nämlich, wonach im späten Kapitalismus jegliche fetischistische Eigenlogik des Werts zugunsten rein politisch zu begreifender Macht- und Willensverhältnisse abgeschafft sei, hat so manchem Marxisten den Abschied von der Kritik der politischen Ökonomie und den Einstieg in den (Post-)Strukturalismus etwa eines Foucault erleichtert, dem alles gesellschaftliche Geschehen a priori als ein Ensemble von Machtbeziehungen gilt.

30) Pohrt, Gebrauchswert, a.a.O., S. 243f. sowie S. 251f.

31) Moishe Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus, in: kritik und krise Nr.4/5, S.9

32) Volkhard Brandes, Zum Verhältnis von Ökonomie, Staat und Politik im deutschen Faschismus, in: Jahrbuch Arbeiterbewegung 4, Frankfurt a.M. 1976, S. 30ff.

33) Dasselbe Regime, das Geld und Spekulation den Kampf angesagt hatte, erwies sich damit als gigantische Spekulationsblase himself. - Was sich beim philosophischen Hirten des Führers übrigens schon ankündigte, wie Adorno einmal überaus treffend anmerkte: "Heideggers Philosophie, bei aller Aversion gegen das von ihm so genannte Man, dessen Namen die Anthropologie der Zirkulationssphäre denunzieren soll, gleicht einem hochentwickelten Kreditsystem. Ein Begriff borgt vom anderen. Der Schwebezustand, der damit sich herstellt, ironisiert den Gestus einer Philosophie, die so bodenständig sich fühlt, daß ihr lieber als das Fremdwort Philosophie das deutsche Denken ist." (Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966, S. 83f.)

34) Tim Mason, Der Primat der Politik - Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus, in: Das Argument 41/1966, S. 491

35) Wolfgang Pohrt, Brothers in Crime, Berlin 1997,S.80

36) Pohrt, ebenda, S. 198

37) Adornos erkenntniskritische Überlegungen zum "kritisch herzustellenden Vorrang des Objekts", dessen "Fratze im Bestehenden" der Fetischcharakter der Ware sei (Negative Dialektik, a.a.O., S. 190), geben in diesem Zusammenhang ihren präzisen revolutionären Sinn preis: Kommunismus, der diesen Namen auch verdiente, heißt nicht die Verwirklichung des allzeit "schöpferischen Menschen", dem sozialistisch bis alternativ drapierter Abhub repressiver Subjektivität. Keine Freiheit des Individuums, ohne nicht zugleich die Natur, die erste wie die dann hoffentlich humanisierte, zu ihrem Eigenrecht kommen zu lassen. Wahrer "Vorrang des Objekts" hieße, die Bedingungen dafür hinfällig werden zu lassen, daß die Menschen die dingliche Welt genauso wie ihresgleichen mit den Augen von Plünderern und Beutemachern taxieren und entsprechend handeln38) vgl. dazu Ulrich Enderwitz, Die Medien und ihre Information, Neuauflage, Freiburg 1996, S. 129ff.

39) Heinz-Klaus Metzger, Kultur und Barbarei. Zur Dialektik des Fortschritts im italienischen Futurismus, in: ders., Musik wozu. Literatur zu Noten (Hrsg. Raainer Riehn), Frankfurt a.M.1980,S.242

40) "Die Unterhaltungsindustrie produziert nicht ,niederes' Vergnügen, wie alle den Begriff des Niveaus ins Zentrum der Beschreibung rückenden Theorien es wollen, sondern Versagung." - Heinz-Klaus Metzger, Über die Verantwortung des Komponisten, in: ders., Musik wozu, a.a.O., S.135

41) vgl. dazu: Ulrich Enderwitz, Totale Reklame, a.a.O., bes. S. 148/49 sowie 150/51

aus: Bahamas 28