Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet zwischen sozialem Fortschritt und Kontrolle

Das Ruhrgebiet unterschied sich in seinem kometenhaften Aufstieg zu einer der größten Industrieregionen Europas sehr stark von der Entwicklung anderer aufstrebender Stätten der Produktion. Der Hauptgrund dafür ist, daß in der Gegend des späteren Ruhrgebiets zu Beginn der Industrialisierung keine nennenswerten Städte vorhanden waren, die als Kristallisationskerne dienen konnten. Hinzu kam, daß die Standorte der Zechen allein nach geologischen Faktoren, nämlich dem Vorkommen von Steinkohle, festgelegt wurden. Ergebnis waren Ansammlungen von Industriedörfern mit Einwohnerzahlen, die mit denen von großen Städten konkurrieren konnten. Sie waren nicht strukturiert, d.h. sie hatten keinen Ortsmittelpunkt, keine Geschäftsstraßen, häufig keine Kirche, Schule etc. Es waren also oft weite Wege zur nächsten größeren Ortschaft zurückzulegen. Die Straßen waren allerdings nicht befestigt und führten auch durch sumpfiges Gelände. Die höhere Verwaltung war ebenso nicht im entstehenden Industriegebiet angesiedelt, was zur Vernachlässigung der neuen Orte beitrug.

Da im frühen Ruhrgebiet so gut wie keine bürgerliche Mittelschicht vorhanden war - ihre Zentren wie Münster oder Köln lagen weit entfernt - entwickelte sich nur sehr langsam ein kulturelles und Geschäftsleben.

Die Verschärfung der Wohnungsnot in der Phase der Industrialisierung rückte erst in das Bewußtsein der Bürger, als die Vorgänge ihr eigenes Leben, persönliches und geschäftliches Handeln oder ihre ökonomische Situation betrafen. Die "körperliche und sittliche Verfassung" der Arbeiter, die hygienischen Zustände und soziale und politische Unruhen veranlaßten sie zum Handeln.

Als ein wichtiges Instrument zur "Domestizierung" der Arbeiter, bzw. zum Aufzwingen bürgerlicher Verhaltensweisen und Lebensformen diente die Architektur und die Siedlungsplanung.

Vor der Industrialisierung, Anfang des 19. Jahrhunderts, gab es auf dem Gebiet des späteren Ruhrgebiets nur wenige Dörfer. Das Land war flach und sumpfig, die wenigen Städte am Hellweg, einer der bedeutendsten mittelalterlichen Handelsstraßen, waren in die Bedeutungslosigkeit versunken wie z.B. Dortmund.

Die Kulturlandschaft an Ruhr und Emscher war von der Industrie noch vollständig unberührt, die wenigen Kleinzechen und mit Holzkohle betriebenen Eisenhütten waren ökonomisch ohne Bedeutung.

Südlich der Ruhr konnte die hier dicht unter der Oberfläche liegende Kohle schon seit dem Mittelalter mit Hilfe von Seilzügen abgegraben werden. Seit dem 16. Jahrhundert gelangte man durch waagerechten Stollenbau an die an den Hängen des Ruhrtals zutage tretenden Flöze.

Zu dieser Zeit konnten die nötigen Arbeiter für diese Kleinzechen aus der ortsansässigen Landbevölkerung rekrutiert werden. Sie lebten noch in ihren bäuerlichen Kotten und dörflichen Siedlungsstrukturen. Die zu dieser Zeit üblichen Kotten bestanden aus Wohnung (Stube, Schlafkammer) und landwirtschaftlich genutztem Teil, dazwischen lag die große Küche.

Neben den Kotten gab es noch Bauernhäuser, die von zwei bis vier Familien bewohnt wurden. Häufig gab es eine gemeinsame "schwarze Küche", die in der Mitte des Hauses lag, also keine Fenster hatte, und von allen Bewohnern genutzt wurde. Auch die Flure im Haus waren Ort des gemeinschaftlichen Lebens, da von hier alle Wohnräume betreten wurden. Diese Hausgemeinschaften verbrachten einen großen Teil des Tages mit gemeinsamer Arbeit im Haus und bei der landwirtschaftlichen Arbeit, die von Männern und Frauen gleichermaßen besorgt wurde. Die Arbeit im Bergbau war zu dieser Zeit nur Nebenerwerb.

So entstand ein komplexes Sozialgefüge. Auch die später ansatzweise entwickelte Separation der Wohnbereiche durch Aufgabe der schwarzen Küche zugunsten kleinerer, den Familien zugeordneten Küchen, änderte daran erstmal nichts.

Wohnhäuser als Schlafstätten für Arbeiter

In diesem Zustand befand sich das Ruhrgebiet auch noch zu Beginn der Industrialisierung um 1830.

Mit der Schiffbarmachung der Ruhr und der Einführung der Dampfmaschine waren die Voraussetzungen für die Industrialisierung geschaffen. Es entstanden die ersten großen Eisenhütten und Maschinenbaubetriebe (u.a. auch Krupp). Der Bedarf an Arbeitern stieg demzufolge stark an, konnte aber noch aus der ländlichen Bevölkerung aus der Nähe gedeckt werden. Besonders der Mangel an ausreichendem, menschenwürdigem Wohnraum vergrößerte das Elend der Arbeiter. Obwohl der Bergbau unter der Kontrolle der königlich-preußischen Bergamtsdirektion stand und die Arbeiter somit einen beamtenähnlichen Status hatten und vergleichsweise große Privilegien genossen, wohnten sowohl Berg- wie auch Fabrikarbeiter vorrangig in den ehemals landwirtschaftlich entstandenen Kotten. Es wurden aber immer mehr "Ledigenwohnheime", kasernenartige Wohnunterkünfte für alleinstehende Industriearbeiter, als neue typische Wohnform gebaut.

Um den Mangel an geeignetem Wohnraum besonders für Meister und Vorarbeiter, die mit ihrem Fachwissen unentbehrlich geworden waren, in der Nähe der Zechen und Betriebe zu beheben, wurde 1844 mit dem "Werkswohnungsbau" begonnen, es entstand die erste nicht-staatliche Siedlung des Reviers: die Gutehoffnungshütte baute in Oberhausen die Kolonie "Eisenheim". Die Häuser der Siedlung waren zweistöckig und bestanden aus je zwei Wohnungen. Ihnen zugehörig war ein Garten und ein Gebäude mit Ställen und Klos. Die Wohnungen waren durch separate Eingänge (zur Straße und zum Stall/Klo) streng voneinander getrennt. Der Grund hierfür war die bessere Verkäuflichkeit, um die bewährten Fachleute durch die Möglichkeit zum Hauskauf dem Werk zu verpflichten. Ein hohes Maß an Gemeinschaftlichkeit war jedoch auch hier selbstverständlich, da die ehemaligen Bauern und Handwerker aus ihrem Lebenslauf heraus kein Bedürfnis nach Zurückgezogenheit kannten.

In den Anfängen der architektonischen und baulichen Entwicklung wurden also hauptsächlich Meister und Vorarbeiter bedacht, während die Wohnsituation der Arbeiter unberührt blieb.

Die Entdeckung der Architektur als Instrument zur Beeinflussung der Lebensform

Die neuen Zechen wurden oft auf freiem Feld errichtet, die kleinen Orte in deren Nähe waren nicht in der Lage, die Familien der zuziehenden Arbeiter unterzubringen. Aus diesem Grund entstand auch ab 1847 die Siedlung "Alter Clarenberg" in Hörde (jetzt Dortmund). In dieser frühen Arbeiter-Koloniewurden 15 zweigeschossige Häuser in Reihen dicht nebeneinander gebaut. Es gab keine Gärten und nur unbegrünte Zwischenwege. Jede Etage enthielt acht Zimmer, die nicht durch Größe oder Form einem bestimmten Zweck zugeordnet wurden. Sie konnten durch Türen und Treppen zu Zwei- oder Vier-Zimmer-Wohnungen mit separaten Eingängen gestaltet werden. Die von einfachen Arbeitern bzw. von Meistern und Vorarbeitern bewohnten Einheiten lagen in den gleichen Häusern und nicht wie später üblich in gesonderten Häusern bzw. Geländen.

In den Häusern im alten Clarenberg konnten die Wohnungen variiert werden, d.h. verschiedene Formen erfüllten denselben Zweck. Der Zusammenhang von Lebensvorstellung und Hausform war nicht mehr eindeutig und somit planbar geworden.

In einem solchen Planungsverständnis von Zweck und Form wurde es auch möglich, die Relation von Architektur und Lebensform umzukehren und so die Planung eines Hauses auch als Planung einer anderen Lebensvorstellung zu verstehen.

Das Elend der Frühindustrialisierung

Mit der Aufnahme des Eisenbahnverkehes zwischen Duisburg und Dortmund 1847, dem endgültigen Vordringen des Bergbaus in dem Bereich zwischen Ruhr- und Emscherzone und größeren Erfindungen in der Metallherstellung und -verarbeitung kündigte sich der große Industrialisierungsschub an; die großen Konzerne entstanden (Thyssen, Hoesch) oder konnten ihre Vorrangstellung ausbauen (Krupp). Der Bedarf an Arbeitskräften stieg enorm und verursachte eine erste große Einwanderungswelle. Die sogenannte Nahwanderung brachte die ländliche "Überschußbevölkerung" (Nachkommen von Kleinbauern und ehemalige Landarbeiter) aus dem Münster-. und Sauerland sowie aus den linksrheinischen Mittelgebirgen ins Ruhrgebiet, wo sie in den Bergwerken, Eisenhütten und Metallbetrieben als ungelernte Arbeiter angestellt wurden. Die Anzahl der Beschäftigten stieg zwischen 1847 und 1870 von 10.000 auf 50.000.

Durch die ungehemmte Entfaltung des freien Marktes, seiner Krisen und den sich auf Druck der Unternehmer aus dem Bergbau zurückziehenden Staat (Bergleute wurden zu "freien" Arbeitern) verschärfte sich die soziale Lage der Arbeiter dramatisch. Nach Massenentlassungen verelendeten viele Bergleute, da ihnen kein Schutz durch den Staat mehr zuteil wurde, die Lebensbedingungen wurden durch das Vordringen des Bergbaus in größere Tiefen (schlechtere Arbeitsbedingungen), höheren Leistungsdruck, Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerung immer prekärer.

Um die aus der näheren Umgebung einwandernden Arbeiter in der Nähe der Fabriken und Bergwerke unterzubringen, entstanden ab 1850 immer mehr große Kolonien, in denen die Arbeiter in langgestreckten, zweigeschossigen (wegen der immer häufiger auftretenden Bergschäden war es nicht möglich, höher zu bauen) Häusern auf engem Raum untergebracht wurden. In diesen Häusern, z.B. im Bochumer "D-Zug", gingen die Zimmer der unteren Wohnungen sowie die Treppen zu den oberen Wohnungen vom gleichen Flur ab, dieser war also gleichzeitig Haus- und Wohnungsflur und diente als gemeinsamer Begegnungsraum aller Hausbewohner. Die schon vorher begonnene Entwicklung zur Zerlegung der Häuser in Familienbereiche sowie der Vermeidung von Gemeinschaftsräumen, besonders Küchen, hatte sich noch verstärkt. In vom Krupp-Konzern gebauten Siedlungen in Essen ("Westend", "Nordstern") hatten die oberen und unteren Wohnungen dann getrennte Eingänge, teilweise sogar von entgegengesetzten Seiten des Hauses.

Die Hausöffentlichkeit wurde so von der Privatsphäre einer Familie ausgegrenzt. Die Familien beherbergten allerdings in zunehmendem Maße Kostgänger, Untermieter, die in die Familie integriert wurden. Die Familienstruktur blieb also offen, die Möglichkeiten, sich gegen "Familienfremde" abzugrenzen, wurden jedoch größer.

Industriedörfer im Boom des Ruhrgebiets

Der Bautyp aber, der das Ruhrgebiet wie kein anderer prägen sollte, wird erstmals in Mulhouse (Elsaß) gebaut und erregte auf der Weltausstellung in Paris 1855 großes Aufsehen: das Haus im "Kreuz-Grundriß".

Eine erste Siedlung dieser Art im Ruhrgebiet entstand 1858 in Bochum-Stahlhausen. Das frühere Reihenschema der Häuser wurde verlassen und in kleinere Einheiten zerlegt. Die Eingänge von je zwei der vier Wohnungen in den zweigeschossigen Häusern lagen auf gegenüberliegenden Seiten; durch die Türen gelangte man direkt in die Küche, von der weitere Zimmer zugänglich waren. Zu den Wohnungen gehörte auch ein Garten mit einem Gebäude für Stall und Toiletten.

Die Absichten der Siedlungsgründer, durch die bauliche Isolierung der Familien diese als Kernfamilie zu konstituieren, wurden durch die wirtschaftlich immer notwendiger werdende Aufnahme von Kostgängern zunehmend unterlaufen.

Um den Bedarf der nach dem Sieg im Krieg gegen Frankreich 1871 boomenden Wirtschaft an neuen Arbeitskräften zu decken, liefen regelrechte Werbekampagnen der Bergwerke und Konzerne an, die die seit den preußischen Reformen (u.a. Aufhebung der Leibeigenschaft) freigesetzten, besitzlosen Landarbeiter aus Schlesien, Ost- und Westpreußen, Polen und Masuren anlockten. Zwischen 1870 und 1914 kamen in verschiedenen Wellen 700.000 Zuwanderer ins Revier. In manchen Gegenden, besonders in der Emscherzone, in die der Bergbau mittlerweile gewandert war, betrug deren Anteil mehr als 20% an der Bevölkerung.

Die vorhandenen Siedlungen konnten den Bedarf an Wohnraum nicht annähernd decken, zumal sie meist zu weit südlich lagen. Viele Familien teilten sich eine Wohnung oder sie nahmen statt Kostgängern dreimal so viele Schlafburschen auf, die sich aufgrund ihres Schichtdienstes ein Bett teilten. Diese Art des Zusammenlebens wurde bürgerlicherseits zum Mißstand erklärt, der zum sittlichen Verfall der Arbeiter führen würde.

Auch die körperliche Verfassung der Arbeiter ließ für die Arbeitgeber zu wünschen übrig, auch von den Infektionskrankheiten, an denen die Arbeiter litten, fühlten sie sich bedroht. In den Wohngebieten der Arbeiter herrschten unglaublich schlechte hygienische Zustände. Die vielen Bergsenkungen machten ein geschlossenes Abwassersystem unmöglich und führten zur ständigen Veränderung der Flußläufe, es bildeten sich in den sumpfigen Gegenden Abwassertümpel, die Herde für Seuchen wie Typhus und Cholera waren.

Die Besitzer der Fabriken und Bergwerke hatten zudem Schwierigkeiten, ihre neugeworbenen Arbeiter an ihren Betrieb zu binden, nicht selten kündigten diese ihren Job, ohne das vom Arbeitgeber vorgestreckte Reisegeld abzuarbeiten und nahmen besserbezahlte Arbeit an.

Die Arbeitgeber hofften, durch vermehrten Siedlungsbau alle diese Mängel zu beheben. Sie legten ihrer Planung bürgerliche Verhaltensmuster zugrunde, die sie bei der Arbeiterschaft zu verankern hofften. Besonders die architektonische Gestaltung unterstützte diese Funktion.

Bürgerliche Werte als Bändigung der Arbeiterklasse

"Eine ernste Beschäftigung mit der Landespolitik erfordert mehr Zeit und tiefere Einsicht in schwierige Verhältnisse, als Euch zu Gebote steht. [...] Nach gethaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen, bei den Eltern, bei der Frau und den Kindern. Da sucht Eure Erholung, sinnt über den Haushalt und die Erziehung. Das und Eure Arbeit sei zunächst und vor allem Eure Politik." (Alfred Krupp an seine Arbeiter, 1877)

Die zu dieser Zeit hauptsächlich in der Emscherzone gebauten Häuser waren im Kreuz-Grundriß gehalten, hatten separate Ställe im Garten oder vermehrt Stallanbauten. Eine wesentliche Neuerung bestand allerdings in der Wandlung der Küche vom Durchgangsraum zu Stube, Kammern, Klo und Obergeschoß zur Wohnküche, die nur noch durchquert werden mußte, um in die Stube zu gelangen. Durch die Vorverlegung der Zugänge zu den anderen Räumen konnten z.B. die Kostgänger und Schlafburschen, die in Kammern unter dem Dach untergebracht waren, aus diesem neu entstandenen "Familien"zimmer herausgehalten werden. Dies integrierte die Familie, indem die verschiedensten Tätigkeiten der täglichen Arbeit, aber auch die Pausen, das Kinderspiel und das Essen in einem Raum zusammenfaßte, der von Untermietern und Nachbarn weitgehend abgeschlossen war.

Ein weiterer wichtiger Schritt in dieser Entwicklung war der "Wohnungsflur". Es gab zwar schon lange Flure in den Häusern, diese waren allerdings immer hausöffentlich und nicht wohnungsprivat, d.h. sie wurden immer von mehreren Familien benutzt. Man gelangte jetzt also nicht mehr von der Straße oder vom Hausflur direkt in die Wohnung, sondern der neue Flur diente als Schleuse. Dies konstituierte ein kontrollierbares Innen und Außen, das jedesmal neu erfahren wurde, wenn jemand in die Wohnung gelassen wurde oder auch nicht.

Nicht zuletzt waren ökonomische Beweggründe ausschlaggebend für die Arbeitgeber und zunehmend auch für den Staat, der immer öfter Geldgeber wurde. Schließlich brauchte man genug und vor allem gesunde Arbeiter und Soldaten, die sich einer bürgerlichen Arbeitsethik unterwarfen, von ihren geringen Löhnen leben konnten, sich mit ihrem Betrieb identifizierten und ihm treu dienten und vor allem kein Klassenbewußtsein entwickelten, sich nicht an sozialen und politischen Kämpfen beteiligten, die den Bürgern seit dem Aufkommen der Sozialdemokratie zunehmend Ärger bereiteten und zu mehr Zugeständnissen an die Arbeiter zwang.

Neben der schon erwähnten Funktion des Hausgrundrisses war der Garten ein wichtiger Schritt in

diese Richtung.

Der Garten war Mittel, die Löhne gering zu halten, da er (besonders im Zusammenhang mit dem den Arbeitern zur Verfügung stehendem Pachtland), ein hohes Maß an Subsistenzwirtschaft ermöglichte. Dies machte es wiederum notwendig, daß die Arbeiter ihre Familien nachholten, um die Hilfe der Frau zu haben. Die ökonomische Besserstellung durch die Subsistenzwirtschaft machte es überflüssig, Untermieter zu beherbergen und fesselte die Arbeiter mehr an sein Zuhause. Beides trug zur von den Bürgern gewünschten Versittlichung bei.

Der zu bearbeitende Garten, in den viel Mühe investiert wurde und die nun mitzuversorgende Familie banden den Arbeiter stärker an den Betrieb. Die hochmobilen Junggesellen wurden zunehmend seßhafte Familienväter.

Hierzu diente wiederum auch die veränderte Außengestaltung und Anordnung der Häuser: statt serieller Häuser baute man besonders nach der Jahrhundertwende individuell gestaltete ländlich anmutende Häuschen und statt Siedlungen "Dörfer", die an das Landleben erinnern sollten.

Eigentum und bürgerliches Leben

Als ein weiteres Mittel zur Verankerung der bürgerlichen Werte im Bewußtsein der Arbeiter wurde das Eigentum angesehen, besonders in Form des eigenen Hauses und Grundstückes:

"Wir meinen, diese, allen germanischen Nationen eigene Vorliebe für das unbewegliche, liegende Gut, namentlich aber für das eigene Haus, ist eine Eigenschaft, welche zu conservieren durchaus wünschenswert ist. [...] das Bewußtsein, etwas zu besitzen, was die Diebe nicht wegtragen können, freier Herr zu sein auf einem Stückchen Erde, gibt dem Manne einen Halt für das ganz bürgerliche Leben. Jetzt erst fühlt er sich als Mitglied einer befriedeten Gemeinde, jetzt erst wird er sich der ernsten Pflichten gegen die übrige menschliche Gesellschaft außerhalb des Kreises der Familie recht bewußt, jetzt erst empfindet er warm, daß er einstehen muß für Ordnung und Recht, gegen Diebstahl und Vergewaltigung mit den Anderen, mit den Nachbaren in Gemeinde und Staat." (Schubarth, Landrat des Kreises Mönchen-Gladbach, 1868)

Es wurden viele Versuche gemacht, den Arbeitern den Erwerb von Eigentum zu ermöglichen, diese machten jedoch wenig Gebrauch davon, vor allem fehlten ihnen die finanziellen Mittel, die sie auch nicht aufbringen konnten, wenn sie die angebotenen Kreditmöglichkeiten nutzten.

In den Kolonien waren sie rot

Die beschriebene Entwicklung brachte eine Siedlungsstruktur hervor, die ihren ganz speziellen Charakter den Versuchen, das Ruhrgebiet zu einer bürgerlichen Stadt zu formen, verdankte: die Zechenkolonie.

Den bürgerlicherseits geplanten Lebensvorstellungen nahmen sich die Arbeiter nur zum Teil an. Der Enge der Kernfamilie entflohen viele durch den Aufenthalt in Kneipen und Vereinen. Sie engagierten sich politisch und identifizierten sich sehr stark mit ihren Betrieben aber auch mit ihrer Kolonie, wo ihre Kollegen ihre Nachbarn waren; so wurde die Arbeiteridentität weiter gefestigt.

Die zur Drückung der Löhne erwünschte Subsistenzwirtschaft förderte ebenso eine enge Zusammenarbeit der Nachbarn. Man half sich gegenseitig wo es ging, wer ein Handwerk gelernt hatte bot seine Fähigkeiten "unter der Hand" an, direkter Tauschhandel war an der Tagesordnung. In den Kolonien war eine Ökonomie entstanden, die die bürgerlichen Absichten unterlief und die Entstehung einer Handel und Gewerbe treibenden Mittelschicht verhinderte.

Die Bergarbeitersiedlungen waren gegen alle Versuche der sozialen Disziplinierung und Kontrolle zu sozialen Räumen intensiver Nachbarschaft, politischer Sozialisation und kollektivem Lebensverständnis geworden. Nicht zufällig sollten die Streikbewegungen der Bergleute für die Sechsstundenschicht und für die Sozialisierung des Bergbaus 1918/19 ihren Anfang in Orten nehmen, die einen hohen Anteil an Bergmannskolonien hatten. Die KPD erreichte in den Zechensiedlungen nicht selten über 40% der Wählerstimmen.

Obwohl die Industriedörfer des Ruhrgebiets in den darauffolgenden Jahrzehnten zu einem einzigen, dicht besiedelten Konglomerat zusammenschmolzen, ist es nicht zu einer Großstadt geworden. Die in den Zechensiedlungen entstandene proletarische Kultur blieb dominierend, eine bürgerliche, weltstädtische Kultur wie die der Bohème des Berlins der Zwanziger Jahre entstand nicht.

aus: ARRANCA Nr.13 Herbst `97